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Französische
Gothik.
dem sehr richtigen Grundsatze aus, das Ornament aus den
constructiven Gliedern zu entwickeln; sie verdankten diese
Regel der strengen Schule vom Anfange dieses Jahrhun-
derts, welche in dem ersten Eifer der Erfindung nur an
die Herstellung des Construetionssystems gedacht und da-
durch einen gewissen ernsten Schmuck, ohne ihn zu suchen,
erlangt hatte. Sie fuhren aber auf diesem XVege fort,
indem sie nichts was nöthig oder nützlich war, verbargen,
es aber überall so gestalteten, dass es die Function des
bestimmten Gliedes oder Theiles lebendig und mit einem
Anklange an organisches Leben aussprach. In dieser XVeise
entstanden alle die Formen, Welche dem gothischerl Bau
einen so ilnvergleichlichen Reichthuln geben; das hIaass-
Werk der Fenster und Bogenreihen, die Fialen der Strebe-
pfeiler, die Triforien, sie alle sind nicht blosse Zierde,
sondern zugleich nützlich. Selbst die phantastischen Thier-
gestalten, Welche von den Dächern der Kirchen in die Luft
hinausragen, sind nichts als ein zweckmässiges Mittel, um
das Regenwasser in genügendem Abstande von den Mauern
herabfallen zu lassen, und so wurde denn auch sonst alles
Nützliche, bis auf den Eisenbeschlag der Thüreil herunter,
in einer Weise ausgeführt, dass es zur Zierde gereichte.
[Die Menge statischer und kirchlicher Bedürfnisse bildete
unmittelbar den Reichthnnl des Schmuckes. Aber neben
dieser weisen Berücksichtigung des Nützlichen machte sich
auch das höhere Princip der Ornainentik, Welches schon
aus dem Wesen architektonischer Schönheit folgt und da-
her in allen Systemen mehr oder weniger anerkannt ist,
hier vorzugsweise und mehr als in anderen Stylen geltend.
Keine Stelle sollte leer, keine bloss lebloses Mittel zum
Zwecke sein, jede, wenn sie auch an sich selbst keine
individuelle Leistung hatte, doch durch ihre Gestalt an-
deuten, dass sie ein Theil eines lebensvollen Organismus