Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Das eigentliche Mittelalter (Bd. 4 = [2], Bd. 2, Abth. 2)

Würdigung 
ihrer 
Kunstleistungexx. 
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wahlberechtigten Gefühls, erste, vielleicht kindisch unsi- 
chere, aber doch entscheidende Schritte zu dem richtigen 
Ziele. Die Rohheit der Völker selbst wurde hier zum 
Mittel für die Erreichung eines höheren Zweckes, sie gab 
die Lücken, durch welche der neue Geist eindringen konnte. 
Ein civilisirtes und (lisciplinirtes Volk wäre durch die an- 
tike Regel ertödtet; die noch ungebäildigte Natur half sich 
selbst. Am deutlichsten zeigt sich dies an den ornamen- 
tistischen 'l'heilen. Der römische Styl forderte, dass alle, 
auch die reichsten Verzierungen am ganzen Gebäude an 
derselben Stelle unverändert wiederkehrtcn. Noch an den 
karolingischen Bauteil hatte man es, wenigstens in Betreff 
der Kapitäle, ebenso gehalten. Dem germanischen Gefühl 
war dies unerträglich, nur bei völlig schmucklosen oder 
höchst einfachen Würfelknäufen liess man sich VViederlm- 
lung gefallen; die Verzierung konnte man sich als den 
Ausdruck individuellen Gefühls um wechselnd, nur von 
einem selbstständigen Gedanken, einer persönlichen Empfin- 
dung eingegeben denken. Jeder einzelne Arbeiter glaubte 
sich daher berechtigt und verpflichtet, seinen eigenen Ge- 
danken und Gefühlen zu folgen, nach seiner Weise zur 
Ehre Gottes sich zu äussern. Daher denn die unendliche 
Menge steter Variationen, die oft anmuthigen, oft harten 
lllld willkürlichen Formen, daher die gedrängten, stämmigen, 
unförinlichen Figuren an diesen Kapitälen, deren Bedeutung 
uns unverständlich bleibt oder sich kaum errathen lässt. 
Anfangs traten diese Aeusserungen des individuellen Gefühls 
freilich sehr ungeschickt, willkürlich und roh hervor, aber 
auch so verdienen sie die Missachtung nicht, mit (lenen 
man sie später, von dem Standpunkte der wieder erweckten 
antiken Kunst ausgehend, betrachtet hat. Sie erscheinen 
sofort in ganz anderem Lichte, wenn man sie nicht als 
einen Yerstess gegen die allein wahre Regel, als blgssg
	        
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