Würdigung
ihrer
Kunstleistungexx.
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wahlberechtigten Gefühls, erste, vielleicht kindisch unsi-
chere, aber doch entscheidende Schritte zu dem richtigen
Ziele. Die Rohheit der Völker selbst wurde hier zum
Mittel für die Erreichung eines höheren Zweckes, sie gab
die Lücken, durch welche der neue Geist eindringen konnte.
Ein civilisirtes und (lisciplinirtes Volk wäre durch die an-
tike Regel ertödtet; die noch ungebäildigte Natur half sich
selbst. Am deutlichsten zeigt sich dies an den ornamen-
tistischen 'l'heilen. Der römische Styl forderte, dass alle,
auch die reichsten Verzierungen am ganzen Gebäude an
derselben Stelle unverändert wiederkehrtcn. Noch an den
karolingischen Bauteil hatte man es, wenigstens in Betreff
der Kapitäle, ebenso gehalten. Dem germanischen Gefühl
war dies unerträglich, nur bei völlig schmucklosen oder
höchst einfachen Würfelknäufen liess man sich VViederlm-
lung gefallen; die Verzierung konnte man sich als den
Ausdruck individuellen Gefühls um wechselnd, nur von
einem selbstständigen Gedanken, einer persönlichen Empfin-
dung eingegeben denken. Jeder einzelne Arbeiter glaubte
sich daher berechtigt und verpflichtet, seinen eigenen Ge-
danken und Gefühlen zu folgen, nach seiner Weise zur
Ehre Gottes sich zu äussern. Daher denn die unendliche
Menge steter Variationen, die oft anmuthigen, oft harten
lllld willkürlichen Formen, daher die gedrängten, stämmigen,
unförinlichen Figuren an diesen Kapitälen, deren Bedeutung
uns unverständlich bleibt oder sich kaum errathen lässt.
Anfangs traten diese Aeusserungen des individuellen Gefühls
freilich sehr ungeschickt, willkürlich und roh hervor, aber
auch so verdienen sie die Missachtung nicht, mit (lenen
man sie später, von dem Standpunkte der wieder erweckten
antiken Kunst ausgehend, betrachtet hat. Sie erscheinen
sofort in ganz anderem Lichte, wenn man sie nicht als
einen Yerstess gegen die allein wahre Regel, als blgssg