Schlussbetrachtuxxg.
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stems das Recht und selbst die Gewissenspflicht, die star-
ren traditionellen Formen nach bestem Wissen zu schmücken
und durch diesen wechselnden Schmuck anzudeuten, wie
viele Einzelne am Hause des Herrn mitgebauet hätten.
Betrachten wir die Baukunst dieser Epoche von diesem
Standpunkte aus, so verschwindet sofort das Vorurtheil,
Welches den Kritikern der vorigen Jahrhunderte das Ver-
ständniss verschloss; die Mannigfaltigkeit der Formen ist
nicht das Product einer ungezügelten Willkür und Regel-
losigkeit, sondern die nothwendige Aeusserung des im
Geiste des Christenthums und der germanischen Völker
tief begründeten Princips der Freiheit und Persönlichkeit.
Sie giebt sogar, Wenn wir näher darauf eingehen, diesen
oft formlosen und unbeholfenen Arbeiten einen geheimniss-
vollen Reiz; sie haben durch die Fülle des individuellen
Lebens, die sich in ihnen fast unbewusst und jedenfalls
mit höchster Unbefangenheit regt, eine Frische, Wärme
und Ursprünglichkeit, wie die umnittelbaren Erzeugnisse
der Natur, und erwecken ein grösseres Interesse, als viele,
selbst als die Mehrzahl der Leistungen mancher weiter
entwickelten Zeit. Zwar fehlt auch diesen das individuelle
Element nicht, es ist der Kunst durchweg unerlasslich.
Aber die Individualitäten sind in civilisirteren Zeiten durch
die Gleichförmigkeit der Bildung abgeschwächt, sie sind
Wenigstens nicht so naturkräftig und eigenthümlich, die
verwaltende Reflexion raubt ihren Aeusserungen leicht die
Innigkeit und Wahrheit. Nur die begabtesten und edelsten
Naturen vermögen daher in solchen Zeiten ihre Individua-
lität frei und künstlerisch zu entwickeln. Während dann
aber ihre Werke durch die Verbindung einer gereiften
Persönlichkeit mit den technischen Vorzügen einer durch-
bildeten Kunst das Unübertroffene leisten, bleibt die Mehr-
zahl der VVerke ihrer Zeitgenossen Weit dahinter zurück.