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Schlussbetrachtung.
War die antike 'l'raditi0n nöthig, um die germanischen
Völker vor der Zersplitterung in Willkür und Zucht-
losigkeit zu bewahren und zu einer höheren Einheit heran-
zubilden, so hatte andererseits die germanische Nationalität
einen ebenso bestimmten Beruf; sie sollte jene starre Ueber-
lieferung mit ihrer Gefiihlstiefe, mit ihrer Freiheitsliebe und
Subjectivität durchdringen und so zu einer Wiedergeburt
führen. Auf späteren Stufen finden wir diesen Prozess
schon Weiter vorgeschrittexi und beide Elemente einiger-
maassen verschmolzen, wenn auch noch immer sich pola-
risch abstossend und sondernd; auf der gegenwärtigen lie-
gen sie unverhüllt vor Augen. Die Tradition ist noch ein
äusscrliches, nicht in das geistige Eigenthum der Völker
übergegangenes Gesetz, die germanische Subjectivität ist
noch nicht durch irgend eine Regel geordnet, sondern tritt
nur als natürliche Freiheit hervor. Sie nimmt daher auch
nach
der
natürlichen
und
historischen
Beschaffenheit
der
Provinzen
verschiedene
Gestalten
Elfl.
Es
ist
dies die noth-
wendige Vorarbeit Weiterer Verschmelzung.
Aber in diesen provinziellen Verschiedenheiten erschien
das individuelle Element doch noch gebunden, nicht in sei-
ner vollen persönlichen Freiheit. Diese musste sich daher
auch noch ferner innerhalb der Schulen geltend machen,
sei es, dass sie durch die wechselnde und individuelle Ge-
staltung der wiederkehrenden Glieder, durch die rhythmi-
sche Anlage des Grundplans und durch die Gruppenbildung
schon einen gesetzlichen und objectiven Ausdruck er-
hielt, oder dass sie nur in der Ausführung und Orna-
mentation subjectiv hervortrat. In der griechischen Kunst
wäre es Uebermuth und Frevel gewesen, wenn der ein-
zelne Arbeiter sich erlaubt hätte, von der Gleichheit des
Kapitälschmuckes abzuweichen. Auf dem Boden der neu-
entstehenden Kunst hatte er beim Mangel eines festen Sy-