Schlussbetrachtung.
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zu betrachten und nur das in ihnen zu schätzen, was noch
auf einer einigermaassen gelungenen Beibehaltung antiker
Motive oder auf einem Anklange an dieselben beruht.
Könnten wir uns gewöhnen, unsere Blicke mehr auf das
Neue und Werdende zu richten, uns auf den damaligen
Standpunkt zu stellen, und für das Verständniss der Inten-
tionen empfänglicher zu machen, so würden die Werke
dieser Epoche uns Weniger befremdend und unbefriedigend
erscheinen; wir würden dann nicht an der mangelhaften
Darstelhmg des Natürlichen Anstoss nehmen, sondern die
relative Annäherung an dasselbe verstehen und würdigen.
Allerdings war die Auffassung der Kunst eine mangelhafte;
auf feinere Züge des vollen individuellen Lebens, auf tief
ergreifende Wahrheit dürfen wir nicht rechnen. Selbst die
allgemeinen Stylgesetze können, eben weil sie der Grund-
lage der Natur entbehren, nicht mit. der Kraft wirken, wie
in der vollendeten Kunst; an die ideale Schönheit griechi-
scher Gestalten, an die mächtige und reiche Harmonie der
Farbenaccorde, wie wir sie in der Oelmalerei kennen', ist
eben so wenig zu denken. Aber dennoch hat auch diese
Vorstufe der Kunst ihre Vorzüge. Der phantastisch kühne
11nd doch geregelte Schwung der Linie in den Rankenge-
winden der architektonischen Plastik und der Initialen ist
oft bewundernswerth, der Farbenglanz der Miniaturen er-
freulich. Und höher noch ist es zu schätzen, wenn in
einzelnen Bildern die Poesie des Gedankens vermittelst jener
phantastischen und arabeskenartigen Auffassung freier her-
vortritt, als es bei vollkommen natürlichen Formen möglich
Wäre, wenn ein feineres Gefühl neben der Unvollkommen-
heit der Darstellung sich mit liebenswürdiger Naivetät äus-
sert, wenn wir verstehen, dass die mangelhafte Auffassung
des Natürlichen lmd die typische und architektonische Be-
handlung mit der tiefen und kindlichen Ehrfurcht vor den
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