Schlussbetrachtung.
529
dabei, wie schon gesagt, um ein Zwiefaches, theils um
die Entdeckung oder Begründung neuer Stylprincipien,
theils um Befreiung von der Uebermaeht des überlieferten
antiken Typus. Den kühnsten Schritt hatten jene irischen
Künstler gethan, welche in ihren Miniaturen das Princip
einer malerischen Harmonie von Farben und Formen in
sehr abstracter, aber entschiedener Weise geltend machten,
und dabei die naturalistischen Anforderungen und die Re-
miniscenzen der überlieferten Kunst gleiehmässig beseitigten.
Aber auch das erneuerte Studium antiker Formen, welches
nun, von Deutschland ausgehend, angeregt durch jene iri-
sehe Kunst, aber auch in Abwehr derselben, begann, diente
nur, die Herrschaft dieses antiken Styles zu brechen, indem
es denselben nicht mehr, wie in altchristlicher Zeit, ohne
Weiteres als die natürliche und einzig mögliche Darstel-
lungsweise, sondern als ein freiwillig und mit Bewusstsein
gewähltes Ausdrucksmittel gebrauchte. Die antike Kunst
wurde dadurch schon in einem Gegensatze gegen das ein-
heimische Gefühl aufgefasst, und diesem somit wenigstens
die Möglichkeit zu selbstständigen Aeusserungen gegeben,
welche demnächst, wenn auch nur in mehr oder weniger
schüchternen und unbeholfenen Versuchen, begannen, und
endlich dadurch, dass sie sich an die stylistischen Princi-
pien der Architektur anlehnten, etwas grössere Festigkeit
erlangtenw Es war im Ganzen auch hier derselbe Entwi-
ckelungsgang, wie in der Architektur, die allmälige Auf-
findung neuer und christlicher Stylprineipien durch die Be-
nutzung und Umdeutimg der antiken Formen, nur mit dem
Unterschiede, dass er dort mehr von äusseren Umständen
geleitet wurde, und in den verschiedenen Ländern bald
rascher, bald langsamer zum Ziele gelangte, während er
hier fast überall dieselbe Stufenfolge, wenn auch nicht
überall gleichzeitig und in gleicher Weise, erkennen lässt.
IV. 2. 84