486
Miniaturmalerei.
für das Grossartigc ist aber der Zeichner von jener starren
Würde des altehristlichen Styls, welcher die byzantinisi-
rende Richtung nachstrebte, sehr weit entfernt, es herrscht
vielmehr das bewegteste Leben. Alle Gewänder sind flat-
ternd, wie vom Wirbelwinde durchweht, alle Gestalten in
heftiger Bewegung. Selbst die Körperlänge, welche ihnen
gegeben ist, trägt dazu bei, ihrer Haltung etwas Schwung-
haftes zu geben, selbst das Zitternde der Zeichnung er-
höht den Ausdruck des Erregten. Man fühlt, der Dar-
steller ist von der gewaltigen Bedeutung der darge-
stellten Momente selbst erschüttert, er theilt seine Empfin-
dung ohne den Umweg einer mühsamen Technik in an-
spruchsloser und naiver Weise mit. Durchweg finden wir
neue Gedanken. In der erwähnten Bibelhandschrift sind
am Eingange Mors und Vita dargestellt; aber das Leben
hat hier geradezu Christi bekleidete Gestalt angenommen
und der Tod erscheint nackt, getlügelt, von Schlangen um-
geben. So hat denn diese, auch sonst Wohl vorkommende
Darstellung die bestimmteste Bedeutung erhalten; Christus
ist das Leben, die Sünde der Tod.
Die bekannteste der Handschriften dieses Styls ist die
durch den Mönch Cadmon verfasste angelsächsische poeti-
sche [lebersetzung der Genesis und des Propheten Daniel
in der Bodleyanischen Bibliothek zu Oxford wahrschein-
lich um die Mitte des elften Jahrhunderts entstanden. Sie
gehört indessen vielleicht zu den frühesten, aber gewiss
nicht zu den vorzüglichsfen Arbeiten dieser Schule und
wird namentlich von den Zeichnungen in der erwähnten
Bibelhandschrift und in zwei Psalterierl im brittischen Mu-
Sßllm
603
und
Cotton.
Tiber.
weit
über-
a) Waagen a. a. O. II, 27. Facsimiles einiger Zeichnungen sind
in Dibdin's Decamerone Bd. I bekannt gemacht, wo sich auch p. LXXV
Proben aus besseren Handschriften finden.