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Miniaturmalerei
stichliebhaber anzieht, schon so frühe eintritt. Oft erkennt
man auch die, freilich nur arabeskenartig geäusserte Freude
an der Natur, wie denn das Y zur Darstellung einer VVein-
lese benutzt ist, bei der die Arbeiter an den den Buchsta-
ben bildenden Ranken ganz frei und zierlich hinaufsteigen.
Eine höhere Poesie finden wir in einem Codex der Bam-
berger Bibliothek vom Anfange des zwölften Jahrhunderts,
welcher das Hohelied und den Propheten Daniel enthält.
Besonders anziehend ist das dem ersten dieser beiden my-
stischen Bücher vorausgeschickte Bild. Das Blatt hat blauen
Grund, der oben heller ist imd also den Himmel andeutet.
In der Mitte desselben sehen wir einen Heiligen, der einei-
in einem Becken stehenden Gestalt die Taufe ertheilt. Da-
hinter warten drei andere Täuflinge; von dem 'l'aufbecken
aus geht aber die Schaar der Getauften, Laien, Priester,
Mönche, Bischöfe, Frauen in einem Zuge, der sich mit
kühnem Schwnnge der Linie erst abwärts, dann aufwärts
wendet, und bis zu einer weiblichen Gestalt aufsteigt,
welche auf röthlich angedeuteten Wolken stehend der er-
sten der herannahenden Frauen den Kelch darreicht. Erst
hinter ihr, als das Ziel der ganzen Wanderung, sieht man
den bekleideten Christus am Kreuze. Offenbar ist diese
weibliche, den Kelch darreichende, die Siegesfalme haltende
Gestalt die Kirche, die im Hohenliede gefeierte Braut
Christi; zugleich ist aber durch den Zug der Gläubigen
der wesentliche Inhalt der heiligen Dichtung, die Selm-
sucht der Seele nach Gott, ausgedrückt. Die Zeichnung
ist mangelhaft, aber man muss gestehen, dass die ganze
Anordnung, die kühne, luftige WVanderung der Seelen durch
3') Waagen a. a. O. S. 101 und Jaeck a. a. 0. Nro. 257, 258,
pag. XII halten diese Gestalt für Christus; sie ist aber, wie ich genau
geprüft habe, in Frauentracht mit bedecktem Haupte und ohne Kreuz
im Nimbus.