Die
Poesie.
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gegen den Schluss des elften Jahrhunderts; das Loblied
auf den heiligen Anno, den Erzbischof von Köln, und die
proveilzalischexi Dichtungen des Grafen von Poitou sind die
ersten namhaften Beispiele. In beiden erkennen wir schon
die Regungen eines neuen Zeitalters, den Gebrauch des
Reims und neuer Versmaasse, den Einfluss des christlichen
und des germanischen Geistes. Aber jenes Loblied giebt,
um auf den Heiligen, den es "feiert, zu gelangen, eine
Weltchronik, nicht ohne lebendige poetische Anschauungen,
mit regem Sinne für das Gewaltige, Tragische der Ver-
hältnisse, mit tiefem Ernst; es hält sich mehr im Allge-
meinen. Bei den französischen Dichtern dagegen finden
wir Liebeslieder, ritterlichen Uebermuth, durchweg die Rück-
sicht auf unmittelbare, persönliche Umgeblmgen. Und ebenso
zeigt sich die Verschiedenheit in der lateinischen Literatur.
Die Deutschen bleiben in dem Ton der einfachen Chronik
oder erheben sich zu klassischen Formen; die Romanen
mischen gern etwas Poetisches ein. Die Sprache ihrer
Chronisten zeigt oft ihre innere Erregung, sie suchen ge-
steigerte Ausdrücke, lieben Uebertreibungen, bewegen sich
gern in Antithesen, sehen überall helles Licht oder schwarze
Finsterniss, Himmel oder Hölle. Die Einmischung von
Versen in die l'1'0sa fand schon früher statt, aber dann in
Renliiliszeilzeil aus antiken Dichtern, nicht als Regung eigener
und nationaler Gefühle. Jetzt sind die antiken Maasse ver-
gessen oder entstellt; es ist oft nur ein regelloser Wechsel
von Reimen, in dem der Chronist sich ergiesst, aber er ist
immer an einer für ihn bedeutsamen Stelle eingemischt.
VVenn er die Veränderliehkeit menschlicher Dinge empfindet,
wenn er einen interessanten Charakter schildern, Liebe oder
Abneigung ausdrücken will, so ergeht er sich gern in ei-
nem iWeehsel des Gleichklanges, der die Beziehung der
Gegensätze dem Ohre fühlbar machen soll, es entsteht eine