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Plastik
und
Malerei
Allein in der That ist selbst bei dem Sehen für praktische
Zwecke nicht das physische Auge allein entscheidend, son-
dern stets unser geistiges Wesen, unsere Phantasie mit-
wirkend. Man braucht sich nur an die bekannte 'l'hatsache
zu erinnern, dass das Bild der äusseren Dinge verkehrt
auf unsere Netzhaut fällt, und nur durch einen nicht nach-
weisbaren, uns selbst unbewussten Act unseres geistigen
Wesens in die richtige Stellung gebracht wird, lnn sich
zu überzeugen, Wie mächtig diese instinetartige Einwirkung
unseres Geistes auf unser Auge ist. Dies gilt denn offen-
bar in ästhetischer Beziehung noch viel mehr, als vom ge-
meinen Sehen. Die sichtbare Natur ist ja eben nur die
äussere, sinnliche Oberfläche der Dinge, Welche nur vermöge
ihrer inneren Gesetzmässigkeit dem Geiste ebenbürtig, und
nur durch die Uebereinstimmung dieser Gesetze mit denen
des von uns erkannten Geistes für uns wichtig, und ein
Abbild dieses Geistes ist. Wir verstehen daher die Natur
nur in dem Lichte des Geistes, in dem wir aufgewachsen
und herangebiklet sind, nur im Geiste unserer Zeit und
unseres Volkes, wir können sie nur als schön darstellen,
insofern unser Geist reif und geübt ist in der Fülle der
Erscheinung, die ihm zusagenden Gesetze herauszufinden.
Wir sehen in ihr nur das, worauf wir vorbereitet, Wofür
wir empfänglich sind, wir erkennen die Schönheit nur
durch das Auge der Kunst, nur von dem Standpunkte
eines bestimmten Styles aus. Denn der Styl ist eben das
Resultat der allgemeinen Verhältnisse, in der bildenden Kunst
also der Verhältnisse von Form und Farbe, welche dem
jedesmaligen Geiste entsprechen.
In der Zeit , die Wir zu betrachten haben, war nun
allerdings eine Kunst und mit ihr eine bestimmte Auffas-
sung der Natur überliefert, wenn auch nur in schon er-
bleichenden 'l'raditionen. Aber diese Kunst war eben die