Vorwort.
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bäude des Mittelalters nicht bloss sehr langsam, sondern
oft auch mit Benutzung älterer Fragmente errichtet sind,
und mithin stylistische Aeusserungen mehrerer Zeitalter
gemischt enthalten, mehr oder Weniger verkennt. Man
müsste, wenn man consequent sein wollte, nicht Gebäude,
sondern einzelne Steine datiren. Andere meinen wenigstens,
dass die chronologische Vorarbeit beendigt sein müsse, ehe
sich eine befriedigende Geschichte aufstellen lasse. Allein
auch diese Vorsicht dürfte den Bedürfnissen der Wissen-
schaft nicht entsprechen. Eine völlige Erschöpfung des
Materials wird niemals gewonnen werden; die Geschichte
würde nie beginnen, wenn sie diese abwarten wollte. Sie
darf und muss von Bekanntcm auf Unbekanntes schliessen,
sie hat nicht das Recht, den vollkommenen mathematischen
und juridischen Beweis des 'l'hatsächlichen zu verlangen,
und in seiner Ermangelung zu schweigen. Die Chrono-
logie selbst bedarf der Geschichte, theils um Beweisregeln
aus ihr zu entnehmen, theils um sich über die Bedeutung
oder Bedeutungslosigkeit einzelner Thatsachen aufzuklären.
Geschichte und Chronologie stehen im Zusammenhang-e,
aber sie sind nicht völlig identisch; die Chronologie ist nur
das Mittel, nicht der Zweck. Sie ist sogar nur ein Mittel,
wie dies namentlich die Geschichte der romanischen Kunst
sehr deutlich ergiebt, WO die Gruppirung verwandter Ge-
bäude, die Begränzung der verschiedenen Bauschulen und
die Feststellung ihrer Verhältnisse unter sich und zu dem
ganzen Lande, die Ermittelung ihrer localen Ursachen, mit
einem Worte das geographische Element, auch bei
mangelhafter chronologischer Feststellung, schon eine ziem-
lich lebendige Anschauung von dem künstlerischen Leben
des Mittelalters gewährt. Die Geschichte steht über diesen
vorbereitenden Disciplinen; sie hat die Aufgabe, sich in
den Geist der Zeiten einzuleben, und erlangt dies nicht
ausschliesslich durch die Anhäufung des Materials, sondern
im geistigen Umgange und Verkehr mit der Vergangenheit.
Das einzelne Geschichtstverk darf nicht darauf Anspruch
machen, das letzte Wort zu sprechen, es ist eben nur ein