Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Das eigentliche Mittelalter (Bd. 4 = [2], Bd. 2, Abth. 1)

Antikes 
und 
nordisches 
Naturgefühl. 
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sind dem Nordländer die Erscheinungen der Natur am 
Anziehendsten, wo sie sich im Ganzen zeigt, oder wo 
doch das Einzelne deutlich vom Ganzen abhängig und 
von seinem einheitlichen Leben durchdrungen ist. Das 
Gesammtbild von Himmel und Erde, der Zug der Wol- 
ken und das stumme Leben der Pflanzen, die Seite der 
Natur, welche dem antiken Auge fast entging, beschäf- 
tigen ihn daher am Meisten. Die Edda wagt es, die 
ganze Natur in einer Riesengestalt zusammenzufassen, 
in der Gestalt des Riesen Ymir, den die Söhne Börs er- 
schlagen, um aus seinen Knochen die Berge, aus seinem 
Fleische die Erde, aus seinem Schädel den Himmel zu 
bilden. Statt die Natur zu personificiren, zerstört sie 
die riesige Menschengestalt, um das Weltganze aus ihr 
zu bilden. Sie erzählt ferner von der Esche Yggdrasill, 
in deren Wurzeln Schlangen nagen, in deren Zweigen 
der Adler haust; vier Hirsche umkreisen sie, ihr Laub 
abnagend, ein Eichhörnchen läuft am Stamme auf und 
ab. Es ist offenbar ein Symbol für die im Jahreswechsel 
hinwelkende, unsterbliche und doch an den Schmerzen 
des Todes leidende Natur, wie in den alten Mythen 
Osiris, Adonis und der Mithrasstier, aber hier ist nicht 
eine einzelne menschliche oder thierische Gestalt, son- 
dern ein Gesammtbild von Pflanzen und Thieren, die nach 
einer geheimen Regel zusammenwirken. Selbst auf dem 
prosaischeil Gebiete des Rechts finden wir in den her- 
kömmlichen feierlichen Worten der Gelöbnisse eine Fülle 
von Bildern dieser Art. Wenn es sich bloss von der 
Unverbrüchlichkeit eines Vertrages handelt, verbreitet 
sich die Phantasie über die weite Natur. Das Versprechen 
soll gelten, so heisst-es wohl in diesen Formeln, so 
lange die Sonne scheint und die Ströme fliessen, so lange
	        
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