Antikes
und
nordisches
Naturgefühl.
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sind dem Nordländer die Erscheinungen der Natur am
Anziehendsten, wo sie sich im Ganzen zeigt, oder wo
doch das Einzelne deutlich vom Ganzen abhängig und
von seinem einheitlichen Leben durchdrungen ist. Das
Gesammtbild von Himmel und Erde, der Zug der Wol-
ken und das stumme Leben der Pflanzen, die Seite der
Natur, welche dem antiken Auge fast entging, beschäf-
tigen ihn daher am Meisten. Die Edda wagt es, die
ganze Natur in einer Riesengestalt zusammenzufassen,
in der Gestalt des Riesen Ymir, den die Söhne Börs er-
schlagen, um aus seinen Knochen die Berge, aus seinem
Fleische die Erde, aus seinem Schädel den Himmel zu
bilden. Statt die Natur zu personificiren, zerstört sie
die riesige Menschengestalt, um das Weltganze aus ihr
zu bilden. Sie erzählt ferner von der Esche Yggdrasill,
in deren Wurzeln Schlangen nagen, in deren Zweigen
der Adler haust; vier Hirsche umkreisen sie, ihr Laub
abnagend, ein Eichhörnchen läuft am Stamme auf und
ab. Es ist offenbar ein Symbol für die im Jahreswechsel
hinwelkende, unsterbliche und doch an den Schmerzen
des Todes leidende Natur, wie in den alten Mythen
Osiris, Adonis und der Mithrasstier, aber hier ist nicht
eine einzelne menschliche oder thierische Gestalt, son-
dern ein Gesammtbild von Pflanzen und Thieren, die nach
einer geheimen Regel zusammenwirken. Selbst auf dem
prosaischeil Gebiete des Rechts finden wir in den her-
kömmlichen feierlichen Worten der Gelöbnisse eine Fülle
von Bildern dieser Art. Wenn es sich bloss von der
Unverbrüchlichkeit eines Vertrages handelt, verbreitet
sich die Phantasie über die weite Natur. Das Versprechen
soll gelten, so heisst-es wohl in diesen Formeln, so
lange die Sonne scheint und die Ströme fliessen, so lange