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Demuth.
Die alte Welt hasste freilich den Uebermuth, aber
sie kannte nicht die Demuth, sondern nur die Mäs si-
gung, und diese war nicht eine Anerkennung sittlicher
Schwäche, sondern nur die Bedingung der Kraft und
Schönheit, sie setzte ein Selbstgefiihl, einen edlen Stolz,
etwas Götter-gleiches voraus. Das Christenthum hat
diesen Wahn für immer getilgt und unsere Schwäche
bloss gelegt; es hat dies so gründlich gethaxi, dass
selbst die, welche die Lehre des Heilandes verwerfen,
welche ein blindes Gesetz zum Urquell der Dinge machen
oder die Menschheit auf den göttlichen Thron erheben,
dies Bewusstsein ihrer und unserer Schwäche an sich
tragen. Dies Bewusstsein ist die Wurzel der modernen
Sitte, es ist das, was auch uns mit dem Mittelalter ver-
bindet "und seinen Gestalten einen Ausdruck giebt, der
LlIlS
als
bekannt anspricht.
Auch
hier
aber
wirkte
das
zunächst
Christenthum
nicht allein, sondern in Verbindung mit dem germani-
schen Volksgeiste und namentlich mit jenem Freiheits-
begrif f e, dessen auflösende Kraft überall aufräumte, wo
das christliche Princip volksthümlich werden sollte. Er
isolirte die Persönlichkeit, und diese Einsamkeit, die
auf moralischem Gebiete nicht wie auf dem rechtlichen
durch Anschluss an den Lehnsverband oder an eine
Genossenschaft zu heben war, wurde schmerzlich empfun-
den. Jene Freiheit, aus heidnischem Stolze entsprungen,
wurde die Mutter christlicher Demuth.
Die Demuth des Mittelalters war nun freilich nicht
jenes sanfte Gefühl, das uns in der Fülle des Glücks
wie des Unglücks die Knie beugen lehrt; sie hatte einen
heftigen, leidenschaftlichen Charakter, bedurfte äusserer