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Plastik
und
Malerei.
majestatis" in dem alten Kirchenliede. Freier trat das
Naturelement hervor, seitdem der gothische Styl selbst
an den architektonischen Formen weichere, organisches
Leben athmende Linien annahm und überdies vermöge
Seines ordnenden Princips die Gränzen des Plastischen
und des Baulichen näher bestimmte. Jetzt wurden die
Gestalten natürlicher, heiterer, voller; das architektonische
Element hatte nur den wohlthätigen Einfluss, die natür-
liche Form auf einfache Linien zu reduciren, eine volle,
kräftige Gewandung, die reine Ovalform des Gesichts,
gute, wenn auch nicht nach dem Maassstabe griechischer
Schönheit zu prüfende Verhältnisse hervorzubringen. Jetzt
konnten sich auch anmuthige Züge entwickeln; diese
reinen und klaren Formen gaben den Gestalten einen
Ausdruck vonUnschuld, Einfalt und Demuth, welcher der
Himmelschöre nicht unwürdig ist, und gestatteten eine
naive Heiterkeit, welche die ernsten Gegenstände uns
näher bringt. Auch hier bleibt noch der Mangel voll-
kommener Durchführung der natürlichen Gestalt, aber er
dient dem künstlerischen Zwecke, er erregt die Phantasie
und giebt den Gestalten einen Ausdruck des Werdens,
der sie mehr belebt, als die erschöpfende Vollendung es
vermöchte. Sie wirken nicht als körperliche Dinge, son-
dern wie eine himmlische Erscheinung, die nur kommt
und verschwindet, den Eindruck hinterlässt, aber sich der
Prüfung gröberer Sinne entzieht. äDas steinerne Bild hat
dadurch etwas von der luftigen Allgemeinheit des Ge-
dankens und entspricht so der symbolischen Weltan-
schauung, die schon in der Wirklichkeit die harten Um-
risse der Erscheinungen mit einem Dufte der Poesie um-
zieht. Selbst die scheinbare Schwäche ist also eine noth-
wendige
Eigenschaft.