Auffassung
Natur.
der
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"concentrischen Strichen. Dieser Styl stand noch halb
auf antikem Boden, indem er das Princip der Individua-
lität beibehielt und die demüthige Auffassung des Menschen,
welche das Christenthum lehrt, darauf anwendete. Die
geometrische Regel erschien daher hier wie ein äusser-
licher Zwang, und das Bild gab nur den Ausdruck der
Abtödtung, nicht der Verklärung des Lebens. Dies änderte
sich, sobald die Sculptur in nähere Verbindung mit der
Architektur trat. Denn nun erschien es, wenn die geo-
metrische Strenge der architektonischen Gliederung die
plastischen Gestalten mit ergriff, nicht als eine willkür-
liche Härte, sondern als eine durch die Würde des Orts
hervorgerufene Feierlichkeit. Zugleich aber wurde das
Auge hier auf die wahre Bestimmung der architektoni-
schen Regel und auf ihren Gegensatz gegen die Natur
aufmerksam gemacht, und das Gefühl suchte mehr und
mehr jedem die richtige Stelle anzuweisen. Dadurch
entstanden Werke von zwar strenger aber würdiger
Haltung, von feierlichem aber doch schon Bewegung
andeutendem Faltenwurfe, mit geregelten, aber doch schon
ausdrucksvollen Zügen, in denen sich die- strenge Schön-
heit der architektonischen Linie mit dem einfach aber
grossartig ausgedrückten Gedanken des Gegenstandes ver-
bindet. Es ist etwas Aehnliches wie in dem hieratischen
Style der Griechen, nur strenger, mehr zum Schreckenden
hinneigend. Für die ernsten kirchlichen Aufgaben in der
Auffassung der Zeit war daher dieser Styl nicht unge-
eignet, selbst die höchste von allen, die Darstellung des
Weltenrichters am jüngsten Tage, hat darin zuweilen, unge-
achtet und sogar vermittelst der im naturalistischen Sinne
unvollkommenen Zeichnung eine Hoheit und Würde, Welche
uns ergreift, wie die Schilderung des „Rex tremendae
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