Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Das eigentliche Mittelalter (Bd. 4 = [2], Bd. 2, Abth. 1)

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Plastik 
und 
Malerei. 
eine unmittelbare Anschauung des Höchsten versagt sei. 
Dies, glaube ich, müssen wir bei Betrachtung mittel- 
alterlicher Kunstwerke im Auge haben. Ihre Formen, 
die uns hart und unschön erscheinen, wenn wir die Ab- 
sicht einer idealen Auffassung voraussetzen, erhaltenpine 
ganz andere Bedeutung, wenn wir wissen, dass sie in 
den Gränzen des Gewöhnlichen bleiben sollten. 
Dennoch gelangte auch diese Kunst zu einer ge- 
wissen Id ealität, nur zu einer anderen wie die griechi- 
sche; nicht zur Idealität der individuellen Gestalt, aber 
wohl zu einer idealen Auffassung des Lebens im Ganzen. 
Jene unbestimmte Naturanschauung, deren Schwächen 
wir betrachtet haben , beruhte dGch auch auf einem Ge- 
fühl für ein höheres Gesetz, auf jener symbolischen 
Weltansicht, welche das Einzelne des menschlichen Lebens 
grade deshalb mit geringerer Schärfe betrachtet, weil sie 
das göttliche Walten vorzugsweise ins Auge fasst. Dies 
Gefühl brach sich auch in der Kunst Bahn und suchte 
nach einem ihm angemessenen Formgesetze, das jene 
unbestimmte Auffassung regeln könnte. In der griechi- 
sehen Welt war der Begriff individueller Kraft die Grund- 
lage des religiösen Gefühls und zugleich das Formgesetz 
der Kunst; das christliche Gefühl erheischte eine allge- 
meinere, das Einzelne beherrschende Regel und fand sie 
in der geometriseh-architektonischen Form. Diese drang 
daher unvermerkt und durch die Macht der Umstände in 
die Lücke ein, welche die unbestimmte Naturautfassuug 
offen liess. Zunächst im strengen Styl wurde sie auf die 
einzelne Gestalt angewendet; man betonte daher die 
Symmetrie der Körperhälften, näherte die weichen Um- 
risse der Gestalten der graden Linie, brach sie in scharfen 
Ecken und zeichnete den Faltenwurf in parallelen oder
	        
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