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Plastik
und
Malerei.
eine unmittelbare Anschauung des Höchsten versagt sei.
Dies, glaube ich, müssen wir bei Betrachtung mittel-
alterlicher Kunstwerke im Auge haben. Ihre Formen,
die uns hart und unschön erscheinen, wenn wir die Ab-
sicht einer idealen Auffassung voraussetzen, erhaltenpine
ganz andere Bedeutung, wenn wir wissen, dass sie in
den Gränzen des Gewöhnlichen bleiben sollten.
Dennoch gelangte auch diese Kunst zu einer ge-
wissen Id ealität, nur zu einer anderen wie die griechi-
sche; nicht zur Idealität der individuellen Gestalt, aber
wohl zu einer idealen Auffassung des Lebens im Ganzen.
Jene unbestimmte Naturanschauung, deren Schwächen
wir betrachtet haben , beruhte dGch auch auf einem Ge-
fühl für ein höheres Gesetz, auf jener symbolischen
Weltansicht, welche das Einzelne des menschlichen Lebens
grade deshalb mit geringerer Schärfe betrachtet, weil sie
das göttliche Walten vorzugsweise ins Auge fasst. Dies
Gefühl brach sich auch in der Kunst Bahn und suchte
nach einem ihm angemessenen Formgesetze, das jene
unbestimmte Auffassung regeln könnte. In der griechi-
sehen Welt war der Begriff individueller Kraft die Grund-
lage des religiösen Gefühls und zugleich das Formgesetz
der Kunst; das christliche Gefühl erheischte eine allge-
meinere, das Einzelne beherrschende Regel und fand sie
in der geometriseh-architektonischen Form. Diese drang
daher unvermerkt und durch die Macht der Umstände in
die Lücke ein, welche die unbestimmte Naturautfassuug
offen liess. Zunächst im strengen Styl wurde sie auf die
einzelne Gestalt angewendet; man betonte daher die
Symmetrie der Körperhälften, näherte die weichen Um-
risse der Gestalten der graden Linie, brach sie in scharfen
Ecken und zeichnete den Faltenwurf in parallelen oder