Auffassung
der
Natur.
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Voraus und ignorirt die Verkettung und Abhängigkeit der
Wesen; dem Christenthume dagegen ist diese so wichtig,
dass es selbst die höchsten Gestalten, Gott und Christus,
nicht völlig objectiv in einsamer Grösse, sondern nur in
Beziehung auf uns, liebend, erweckend oder auch drohend,
mithin bedingt durch Welt und Menschen betrachet. Da-
her erscheint uns denn eine ideale Auffassung der höchsten
Gestalten, welche das Mysterium der Gottheit in der
äusseren Erscheinung ausdrücken will, feindlich oder doch
kalt und unbefriedigend, und Versuche dieser Art haben
bei Vielen den Widerwillen gegen jede bildliche Dar-
Stellung Gottes erweckt. Wären diese frommen Eiferer
nicht, ohne es zu wissen, von modernen, nach derAntike
gebildeten Kunstansichten befangen, so würden sie in
den Werken des Mittelalters eine auch ihnen nicht an-
stössige Darstellung dieser höchsten Gestalten kennen
lernen.
Wegen dieser tiefen inneren Verschiedenheit kann
die christliche Kunst zu einer absolut idealen Naturauf?
fassung, wie die antike sie hatte, niemals gelangen; auch
die moderne Kunst hat nur eine bedingte Idealität, eine
edlere Natur, welche sich der gemeinen entgegen-
setzt, und sie daher anerkennt. Dem Mittelalter war
auch dieser Unterschied fremd, es kannte nur ein e Natur,
die durch den Sündenfall entartete, wusste nichts von
einerVeredlung derselben, dachte sich die höchste mora-
lische Vollkommenheit, die Heiligkeit, nicht in gesteigerter
Kraft der natürlichen Anlagen, sondern mit demüthiger
Anerkennung der Schwäche. Es nahm auch keinen An-
stoss daran, die Gottheit selbst in diese Formen zu
kleiden, da Christus die Knechtsgestalt nichtverschmäht
hatte, und da es wusste, dass menschlicher Schwäche
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