Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Das eigentliche Mittelalter (Bd. 4 = [2], Bd. 2, Abth. 1)

Auffassung 
der 
Natur. 
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Voraus und ignorirt die Verkettung und Abhängigkeit der 
Wesen; dem Christenthume dagegen ist diese so wichtig, 
dass es selbst die höchsten Gestalten, Gott und Christus, 
nicht völlig objectiv in einsamer Grösse, sondern nur in 
Beziehung auf uns, liebend, erweckend oder auch drohend, 
mithin bedingt durch Welt und Menschen betrachet. Da- 
her erscheint uns denn eine ideale Auffassung der höchsten 
Gestalten, welche das Mysterium der Gottheit in der 
äusseren Erscheinung ausdrücken will, feindlich oder doch 
kalt und unbefriedigend, und Versuche dieser Art haben 
bei Vielen den Widerwillen gegen jede bildliche Dar- 
Stellung Gottes erweckt. Wären diese frommen Eiferer 
nicht, ohne es zu wissen, von modernen, nach derAntike 
gebildeten Kunstansichten befangen, so würden sie in 
den Werken des Mittelalters eine auch ihnen nicht an- 
stössige Darstellung dieser höchsten Gestalten kennen 
lernen. 
Wegen dieser tiefen inneren Verschiedenheit kann 
die christliche Kunst zu einer absolut idealen Naturauf? 
fassung, wie die antike sie hatte, niemals gelangen; auch 
die moderne Kunst hat nur eine bedingte Idealität, eine 
edlere Natur, welche sich der gemeinen entgegen- 
setzt, und sie daher anerkennt. Dem Mittelalter war 
auch dieser Unterschied fremd, es kannte nur ein e Natur, 
die durch den Sündenfall entartete, wusste nichts von 
einerVeredlung derselben, dachte sich die höchste mora- 
lische Vollkommenheit, die Heiligkeit, nicht in gesteigerter 
Kraft der natürlichen Anlagen, sondern mit demüthiger 
Anerkennung der Schwäche. Es nahm auch keinen An- 
stoss daran, die Gottheit selbst in diese Formen zu 
kleiden, da Christus die Knechtsgestalt nichtverschmäht 
hatte, und da es wusste, dass menschlicher Schwäche 
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