Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Das eigentliche Mittelalter (Bd. 4 = [2], Bd. 2, Abth. 1)

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Plastik 
und 
Malerei. 
man kann sogar im Allgemeinen behaupten, dass gewisse 
Vorzüge der mittelalterlichen Kunst, die ich weiter unten 
zu schildern habe, durch den Mangel an voller Natur- 
wahrheit und Charakteristik bedingt waren. 
S0 abweichend und schwankend die Darstellung der 
menschlichen Gestalt in den verschiedenen Zeiten und 
Stylen des Mittelalters erscheint, liegt ihr doch immer 
eine gleiche Auffassung der Natur zum Grunde; nur 
freilich eine andere als die antike oder die nach antiken 
Vorbildern in der neueren Kunst angenommene. Wenn 
die Männer des Mittelalters an den antiken Kunstwerken, 
selbst in Italien, wo sie häufig zu Tage standen, unbe- 
rührt vorübergingen, so war dies nicht sowohl Stumpf- 
sinn oder kirchliches Vorurtheil, als die unbewusste Wir- 
kung ihres richtigen Gefühls. Sie strebten nach etwas 
Anderem. Das Mittelalter kannte, so paradox es klingt, 
in gewissem Sinne die Natur besser als die Alten. Diese 
lebten zwar körperlich und geistig im innigsten Verkehre 
mit ihr, verstanden alle ihre Winke, und verliehen schon 
ihren frühesten, unvollkommenen Werken eine Lebensfülle, 
welche der christlichen Kunst erst spät zu Theil wurde. 
Aber bei alledem ist ihre Natur nicht die wahre, sondern 
eine ideale, vergötterte; ihre künstlerisch-religiöse Be- 
geisterung ist wie eineLeidenschaft, die ihren Gegenstand 
zerstört und ihm fremde Züge andichtet. Das Mittelalter 
dagegen betrachtete die Welt mit scheuem Auge, aber 
hinter dieser Scheu schlummerte eine treue bescheidene, 
nach wahrer Erkenntniss strebende Liebe. Es Wollte 
die ganze wahre Natur mit allen ihren Mängeln. 
Noch weniger konnte sich das religiöse Gefühl 
mit der antiken Schönheit befreunden. Denn diese setzt 
die ruhige Selbstgenügsamkeit der griechischen Götter
	        
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