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Plastik
und
Malerei.
man kann sogar im Allgemeinen behaupten, dass gewisse
Vorzüge der mittelalterlichen Kunst, die ich weiter unten
zu schildern habe, durch den Mangel an voller Natur-
wahrheit und Charakteristik bedingt waren.
S0 abweichend und schwankend die Darstellung der
menschlichen Gestalt in den verschiedenen Zeiten und
Stylen des Mittelalters erscheint, liegt ihr doch immer
eine gleiche Auffassung der Natur zum Grunde; nur
freilich eine andere als die antike oder die nach antiken
Vorbildern in der neueren Kunst angenommene. Wenn
die Männer des Mittelalters an den antiken Kunstwerken,
selbst in Italien, wo sie häufig zu Tage standen, unbe-
rührt vorübergingen, so war dies nicht sowohl Stumpf-
sinn oder kirchliches Vorurtheil, als die unbewusste Wir-
kung ihres richtigen Gefühls. Sie strebten nach etwas
Anderem. Das Mittelalter kannte, so paradox es klingt,
in gewissem Sinne die Natur besser als die Alten. Diese
lebten zwar körperlich und geistig im innigsten Verkehre
mit ihr, verstanden alle ihre Winke, und verliehen schon
ihren frühesten, unvollkommenen Werken eine Lebensfülle,
welche der christlichen Kunst erst spät zu Theil wurde.
Aber bei alledem ist ihre Natur nicht die wahre, sondern
eine ideale, vergötterte; ihre künstlerisch-religiöse Be-
geisterung ist wie eineLeidenschaft, die ihren Gegenstand
zerstört und ihm fremde Züge andichtet. Das Mittelalter
dagegen betrachtete die Welt mit scheuem Auge, aber
hinter dieser Scheu schlummerte eine treue bescheidene,
nach wahrer Erkenntniss strebende Liebe. Es Wollte
die ganze wahre Natur mit allen ihren Mängeln.
Noch weniger konnte sich das religiöse Gefühl
mit der antiken Schönheit befreunden. Denn diese setzt
die ruhige Selbstgenügsamkeit der griechischen Götter