Sittlichkeit.
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haben daher hier, eben so wie werdende Nationen,
auch nür eine werdende, und daher unsichere und
schwankende Sitte zu erwarten.
Beim Beginn dieses Zeitraumes gab es recht eigent-
lich gar keine Lebensnorm. Die Gebräuche des deut-
schen Heidenthums Waren verpönt, die Gevvohnlieiteü
und Ansichten der römischen Bildung durch den Einfluss
des Christenthums und die Mischung der Nationen ver-
dunkelt, die Menschen lebten einsam auf Burgen und
Höfen, und kamen fast nur in Kriegen und Wanderzügen,
feindlich oder fremd in Berührung; das tägliche Leben
veriioss in öder, unausgefiillter Stille oder in wildem
Getöse. Das Christenthum konnte den Mangel der Civi-
lisation nicht ersetzen, vielmehr musste es selbst, um
ein neues Völkerleben zu begründen, sich einem äusser-
liehen Prozesse unterwerfen, rohen Völkern gegenüber
in sinnlicher Gestalt auftreten. Es war ganz Kirche
im äusserlichen Sinne des Worts, und die Kirche musste um
ihrer Selbsterhaltung Willen Maassregeln ergreifen, welche
die Ausbildung einer wahren Sittlichkeit erschwerten.
Denn diese gedeiht nur in der Luft der Freiheit.
Nur da, wo die Seele sich ganz aufrichtig äussert, ist
Selbsterkenntniss und feinere Würdigung der That denkbar.
Diese Freiheit konnte die Kirche nicht gestatten, sie
musste unbedingten Gehorsam fordern, dies War die
erste, die einzige 'l'ugend. Die Kirchenvater, die noch auf
römischer Bildung fussten, hatten die Vernunft als eine
von Gott gegebene Kraft gelten lassen und sich ihrer
zur Erforschung der göttlichen Geheimnisse bedientif).
k) Augustinus: Ea, quae üdei Iinnilate jam tenes, etiam rationis
lllße conspicias; und an einer andern Stelle: Tempore zurctoritas, re
autenl ratio prior est (NeanderK. G. ll. 2: 764). Noch im 8. Jahrhundert