332
Das
wahre
Geheimniss
der
Meister.
erwärmend den ganzen Körper. Alle Kräfte äussern
sich auch hier noch stark, und wir können daher wohl
in einzelnen Erscheinungen das Vorherrschen der einen
oder der anderen wahrnehmen, aber im Ganzen sind sie
verschmolzen. In der romanischen Architektur haben wir
daher ein Bild des früheren theokratischen Mittelalters,
das seine grossartige Theorie nur unvollkommen zur Aus-
führung brachte, im gothischen das der ritterlich-
scholastischen Zeit. Das Innere zeigt die an-
muthigen, milden Seiten des ritterlichen Wesens; die
Wärme der Hingebung, die zarte Sitte. Der Spitzbogen
trägt zwar einen aristokratischen Charakter, er giebt
nicht jene unlösbare, urkräftige Einheit des Rundbogens,
sondern nur eine bedingte, die sich mit wehrhafter Spitze
nach oben kehrt. Aber doch ist diese Einheit eine frei-
willige, und ein edler, weicher, reiner Geist durchdringt
das Ganze, das um so fester ist, weil es auf freier Wid-
mung beruhet. Diese Weichheit äussert sich im leichten
Anschmiegen aller Theile, in der geregelten Durchführung
des allgemeinen Gesetzes, in der Anmuth des leichten
Maasswverks und in dem Neigen und Durchdringen der
Bögen und Gewölbe. Hier herrscht denn auch das Ele-
ment des Vegetabilischen, des passiven, nachgiebigen
Gefühls. Man hat viel von dem sehnsüchtigen, himmel-
Wärls strebenden Geiste der gothischen Baukunst ge-
sprochen, und nicht ganz mit Unrecht, denn diese weichen,
iliessenden, strebenden Formen haben einen sehnsüchtigen
Ausdruck. Nur darf man diese Sehnsucht nicht, wie es
meistens geschieht, als eine selbstgefällige, sentimentale
Willkür auffassen, sondern als das allgemeine Gesetz
des Ganzen, dem sich das Einzelne ruhig und anspruchs-
los fügt. Das Aufstreben jedes Theiles für sich ist nur