Das
Vegetabilische
Geometrische.
331
Boden war die Einheit des geistigen Urhebers der Dinge
und der von ihm geschaffenen Natur eine unerschütter-
liche Vgraussetzllng; die Gedanken blieben daher massiger
und praktischer, das Gefühl wurde weich und sehnsüchtig
und die Phantasie kleidete ihre geistigen Stoffe in natür-
liche Formen. Aber sie wurde von dem Naturgebiete
angezogen, Welches dieser Scheidung der Kräfte ent-
sprach, nicht von der menschlichen Natur, in der Alles
in einer untrennbaren Einheit umschlossen ist, sondern
von der Pflanzenwelt, deren Unbestimmtheit, Biegsam-
keit und wuchernde Fruchtbarkeit ihr zusagte. Nicht
bloss in der Kunst, auch in der Sittlichkeit des Mittelalters
erkennen wir die Verwandtschaft mit der vegetabilischen
Natur; die Begeisterung treibt mit üppigem Wachsthum
aufwärts, bis sie geschwächt sich niedersenkt, die Hin-
gebung rankt sich wie Epheu an den ihr dargebotenen
Gegenständen empor, "und der Glaube wurzelt wie die
Pflanze in dem Boden der Autorität, in dem er gewachsen
ist. Alle jene moralischen Züge, welche das Vorherrschen
des weiblichen Elements bedingten, enthalten auch eine
Verwandtschaft mit der vegetabilischen Natur.
Im romanischen Style kam diese Richtung auf das
Phantastische und auf Gefühlsweichheit noch nicht zur
Ausbildung, weil hier noch das Verständige, der
Gedanke eines strengen, beherrschenden Gesetzes, über-
mächtig war und jenen anderen Kräften nur ungeregelte
Ausbrüche gestattete. Im gothischen Style ist dagegen
der Gedanke einer vollen, aber dennoch geregelten indi-
viduellen Freiheit zur Reife gekommen. Das Verständige
ist vom Gefühl und von der Phantasie ganz durchdrungen,
sie haben sich selbst dem Verstande gemäss ausgebildet,
und durchfliessen in regelmässigen Adern belebend und