Kirche
und
Staan
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Mannigfaltigkeit so viel Raum 5 verschiedene Nationalitäten,
abweichende Verfassungen ohne Zahl, Thätigkeiten der
eigenthümlichsten Art, alles fand darin seine Stelle. Es
gleicht einem gewaltigen Uhrwerke, Welches der Meister
so kunstreich eingerichtet hat, dass leicht neue Räder hin-
eingepasst werden, die noch andere Beziehungen des Zeit-
gedankens aufzeigen. Oder besser einem grossen Organis-
mus, WO aus der Fülle des Lebens immer neue Functionen in
Harmonie mit dem Ganzen sich selbstständig entwickeln.
Kirche und Staat wie zwei gewaltige Thürme, mit
ihren Spitzen hoch zum Himmel aufragend, mit ihren gei-
stigen Fundamenten tief wurzelnd, halten das ganze Ge-
bäude zusammen. Symmetrisch in allen ihren Theilen,
aber ohne ängstlich bewahrte, ertödtende Uebereinstim-
mung verschaffen sie der Christenheit ein festes Gleichge-
wicht; wenn der eine wankt, so hält ihn die Schwere des
andern. Vor Allem aber sichern jene durchlaufenden, hor i-
zontalen Bande; durch sie erhält die strenge Gliede-
rung eine wohlthätige Elasticität, welche sie wieder zum
Schwerpunkte zurückbewegt, wenn auch die Spitze heftig
erschüttert ist. Es ist wahr, dass viele Theile der gan-
zen Erscheinung nicht zur vollständigen Ausführung ge-
kommen sind. Die kaiserliche Obergexvalt über die
gesammte Christenheit, das Ritterthum in seiner höchsten
Bedeutung und die unbedingte Reinheit der Kirche sind
fromme Wünsche geblieben; jedes Mal, wenn sie der Voll-
endung nahe schienen, trat ein Gegenschlag ein, der Siß
zurückwarf. Aber selbst diese Idealität giebt dem Zeit-
alter eine eigenthümliche, wenn auch tragische Grösse; es
strebte wenigstens nach einem hohen Ziele und duldete
das allgemeine Loos der Menscheit in würdiger AGestalt.