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Der gothische
Styl.
endet war, versagte sich die Pietät spätererGeschlechter
nicht, Kapellen oder andere Anbauten in ihrem verän-
derten Geschmacke anzufügen. Dies kann natürlich sehr
entstellend werden, ist es aber, vermöge der Eigenthüm-
lichkeit des Styls, weniger als man glauben sollte. Der
gothische Bau bildet gar nicht eine absolute Einheit, an
der nichts zugesetzt oder abgenommen werden könnte;
er wächst von innen heraus, wie der Baum, der alljähr-
lich neue Ringe treibt; jeder Zusatz ist ein neuer Beweis
der Lebenskraft. Er besteht aus einzelnen Architekturen,
die zwar ein gewisses Verhältniss zu einander haben,
aber keinesweges alle gleich sein müssen, vielmehr theils
wegen der Stelle, die sie einnehmen, theils auch nur um
ihre relative Selbstständigkeit anzudeuten, eine gewisse
Verschiedenheit, auch in der Behandlung, erlordern oder
doch dulden. Daher macht es auch keinesweges immer
einen nachtheiligen Eindruck, wenn wir die Spuren ver-
schiedener Jahrhunderte an einem Gebäude wahrnehmen,
sofern nur die Veränderung des Styls mit den verschie-
denen Ansprüchen der Theile, zusammenfallt, an welchen
sie vorkommt, wenn also z. B. Chor, Facade und Thurm,
als die geschmückteren Theile etwas später erbaut sind
und daher von der Einfachheit des übrigen Baues abwei-
chen. Nur dann wird solche Mischung störend, wenn
die späteren Theile ganz fremdartig, also etwa der An-
tike nachgebildet sind, nicht dann, wenn sie noch aus
demselben Bildungsgesetze herstammen, das sich durch
die Zeit des gothischen Baues bis an die äusserste
Gränze des Verfalls, wenn auch mit verminderter Kraft
und Frische, erhielt. Denn griechischer und gothischer
Styl sind nicht bloss verschieden, sondern sie sind im
Ganzen und im Einzelnen völlige Gegensätze; sie