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Die
Zeit
der
Wiedergeburt.
des göttlichen Wortes und die unabweisbare Forde-
rung der Natur treten nach menschlicher Auffassung in
WVirlerspruch, und die Sünde findet zwiefaehen Anlass.
Aber dennoch ist diese Zweihcit nicht ein Fluch, sondern
ein Segen. Wie die sich selbst überlassene Natur zum
Verderben führt, Würde das Wort allein zum starren,
ertödteuden Gesetze werden, es bedarf des natürlichen
Gefühls. In der Natur lebt, nur entstellt, nicht vertilgt
durch die Sünde, die Gotteskraft der ersten Schöpfung.
Sie zieht sich durch die vorchristliche Geschichte hin-
(lureh, und dieser Faden ist auch jetzt nicht abgerissen;
neben dem gesprochenen lVorte der Olfenbarung Wirkt
noch wie früher die stille Leitung der Vorsehung, und
die Macht der Umstände tritt ergänzend oder beschrän-
kend entgegen, wo die verständige Folgerung aus der
Schrift auf Irrwege führen würde. Daher bleibt auch
jetzt neben der Allgemeinheit der Lehre das individuelle
Leben der Völker mit ihren besonderen Anlagen und
Richtungen bestehen; aus seinem Sehoosse gehen neue
Nationen, neue Sitten und Gewohnheiten hervor, und die
Freiheit der Einzelnen wirkt mit zur Bestimmung des
Ganzen.
Deshalb erkennen wir im Mittelalter eine doppelte Be-
wegung; die eine von obenher, vom Worte der Schrift
und (ler Kirche ausgehend, die andere von unten her-
au f, aus dem Boden der Naturnothsvendigkeit aufwach-
send; jene rücksichtsvoll, ernst, strenge, diese schein-
bar inconsequent, bald kindisch und roh, bald kindlich
und weich, beide oft widerstreitend, aber zuletzt sich
einigend. Wenn jene der Geschichte des Mittelalters eine
hohe Würde verleiht, giebt diese ihr ein lebendiges Inte-
resse, und wir fühlen bei der Betrachtung der Hergänge