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Vorrang
der
Archite ktur.
welche wahren Kunstwerken
Mittelalter selbst im tiefsten
eigen ist, und welche das
Grunde des Bewusstseins
empfand. Der Musik "fehlte schon die theoretische Grund-
lage, die nur durch feine, wissenschaftliche Beobachtung
der Natur und durch mathematische Studien erlangt
werden kann; sie haftete an den antiken Ueberlieferun-
gen, die doch für den Ausdruck des christlichen Gefühls
unzureichend waren. Ihr fehlte aber auch die geistige
Grundlage, die Reife und Freiheit des Gemüths, welche
es ermuthigt, seine innersten, dem Worte versagten
Empfindungen in Tönen auszuhauchen; sie kani daher
über die Extreme kirchlicher Feierlichkeit und eines ge-
waltsamen, rohen Gefühlsausdruckes nicht hinaus. Auch
der Malerei und Plastik stand nicht bloss die unvoll-
kommene Kenntniss der Natur, sondern noch vielmehr
der Mangel einer festen Sitte, welche vollkommene Ent-
wicklung des Charakters und den Ausdruck des Seelen-
lebens in der äussern Erscheinung gestattet, entgegen.
Die Arc h i t e ktu r konnte alle diese Erfordernisse entbehren
und hatte neben diesem negativen Vorzuge den positiven,
dass alle Eigenschaften der Zeit ihr zu Statten kamen,
auf sie hinwiesen. Sie konnte jenes perspectivische Bild
des Universums darstellen, das der frommen Anschauung
vorschwebte; sie sprach den mystischen Gedanken aus ,
ohne die Realität der Dinge zu verletzen, gab eine grosse
Encyklopäflie Ohne Oberflächlichkeit und Willkür; sie
löste die Aufgabe, atomistische Stoffe zu einer Einheit zu
verschmelzen, mit grösserm Glücke als Staat und Kirche,
ihr war es gegeben, individuelle Glieder leicht in allge-
meiner Ordnung zu verbinden. In ihr fanden der klare
Verstand dei-Scholastik, das tiefe, dunkle Gefühl, die kühne
Phantasie ungehemmte und harmonische Wirksamkeit.