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Die
Mystik.
versuchten zu schauen, wo das Volk nur ahnete und
glaubte. Die Reihe dieser Mystiker beginnt im An-
fange des Mittelalters und zieht sich durch alle Jahr-
hunderte hindurch aber sie bildeten keine bleibende
Schule, sondern stehen vereinzelt. Um zu der vollen Ein-
heit nach der sie strebten zu gelangen, mussten sie der
Erfahrung und dem Verstande Gewalt anthun; sie gaben
daher nur geistreiche Sätze von bedingter Wahrheit und
waren in Gefahr, die nothwendige Scheidung der Dinge
aufzuheben, Gott und die Welt, Gutes und Böses in wü-
ster Mischung zu verwirren und die Natur als ein we-
senloses Spiel andeutender Erscheinungen zu behandeln.
Daher begünstigte die Kirche die Mystik nicht, und warf
ihr eine pantheistisclre Tendenz vor, während der grosse
Haufe sich auf ihre Gedankentiefe nicht einlassen konnte.
Allein dennoch sprach sie den Grundgedanken der gläu-
bigen Anschauung mit solcher Innigkeit aus, war der
christlichen Sehnsucht nach der Einheit mit Gott so na-
tiirlich, dass ihr Bestreben nicht ohne Frucht blieb. Wenn
sie auch keine wissenschaftliche, allgemein gültige Be-
gründung des Glaubens gewährte, so gab sie doch An-
schauungen, welche Einzelne benutzten, und es strömte
Der tiefsinnige Johannes Scotus Erigena, mit dem Schmid
die Reihe der Mystiker erölfnet, ist auch der erste bedeutende Philo-
soph, und ebenso tritt am Schlnsse des Abschnitts, im Anfange des
15. Jahrhunderts, wieder bei Gerson ein bedeutendes mystisches Sy-
stem auf. Zwischen beiden zieht sich die mystische Tradition unun-
terbrochen fort, aber ohne bedeutenden Einfluss auf die Entwicke-
lung der Wissenschaft, indem sie entweder wie bei Wilhelm von
Champeaux und Amalrich von Chartres als Pantheismus verrufei;
wird, oder wie bei Hugo und Richard von S. Victor, und noch mehr
bei dem heil. Bernhard von Clairveaux, ganz auf das religiöse Ge-
biet übertritt. Vergl. Tennemann a. a. 0. S. 168 und 316 und Rix-
ner a. a. O. S. 67.