Die
Mystik.
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der sinnlichen und verständigen Betrachtung eine dritte,
höhere gäbe, welche, indem sie sich sammele und von
allem Menschlichen losreisse, mit unmittelbarer göttlicher
Hülfe zum Anschauen Gottes sich aufschwinge Sie
forderten also eine tiefere, innigere Erkenntniss, eine
grössere Lebendigkeit, welche alle Dinge zusammen in
deutlicher Anschauung sich vergegenwärtige w), und nah-
men dabei ausdrücklich alle Seelenkräfte in Anspruch,
besonders auch die Einbildungskraft, indem sie durch die
sinnlichen Dinge, vermöge ihrer Aehnlichkeit mit den
übersinnlichen, eine Anschauung der letzten erhalte mit).
Die Natur war ihnen ein Spiegel, in welchem wir Gottes
Sein und Wesen anschauen können, oder ein Wachs, in
welchem die göttlichen Ideen abgedruckt seien
Sie lehrten, dass die Dinge nur Zeichen seien, die Got-
tes Wesen andeuteten, sie erklärten jeden, der sie anders
betrachte, für einen stumpfsinnigemfräumer Sie ver-
suchten also die symbolische Anschauung zum Princip
eines wissenschaftlichen Systems zu erheben , sie
So der h. Bernhard v. Clnirveaux (bei Schmid Mysticismus
des Mittelalters. Jena 1824. S. 196.) Speculaliva est consideratio
se in se colligens et Quantum divinitus adjuvatur, rebus humanis exi-
mens ad contemplandum Deum.
W) Richard v. S. Victor (bei Schmid a. a. 0. S. 292.) Contem-
plalio est vivacilas illa intelligenliae, quae curlcta in palam habens
manifesta visione comprehendit. Der h. Bernhard bezeichnet sogar diese
lebendige Anschauung als einen Bausch: ut divino ebriatus amüfß
animus, oblitus sui, tolus pergat in Deum. S. 271.
"Ü Richard v. S. Victor bei Schmid a. a. O. S. 356.
1-) Bonaventura bei 'l'ennemann. Gesch. d. Philos. Th- 9.
S. 543, 537.
11-) Gerson, tom. 4 p. 816 bei Rixner, Handbllßll der Gesch- d-
Phil. II. 182. Quicunqive non accipit res, prout sunt signa Deum
Signiücantia, is merito dicilur non inlelligens et hebes, imo quasi som-
niator phantasticus, utpole qui in vigilia inepte sigua phanlasmatum
pro rebus ipsis suscipit et hahet.