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Ritterliche
Mythologie.
Dualismus waren durch griechischen Einfluss gemildert
und ungefähr auf das christliche Maass des Gegensatzes
von Engeln und Teufeln zurückgebracht. Dabei aber
herrschte in diesen Sagen ein abenteuerlicher, ritterlicher
Geist. Diese Feen, Zauberer, Genien traten vornehmer
und eleganter auf; sie hingen nicht so enge mit der
gemeinen Natur zusammen, die Quelle ihrer Macht war
ungewiss, sie schien auf persönlichem Erwerb oder auf
besonderer Gunst zu beruhen, und stimmte auch dadurch
mehr zu aristokratischen Begriffen. Dafür aber waren
sie weniger bedeutsam und lebenskräftig, ohne charak-
teristische Eigenthümlichkeit, und der Glaube an sie
viel schwankender, als der an jene Wesen des Volks-
mährchens.
Auch die Gelehrten hatten endlich, wie Volk und
Ritter, eine eigne Art mythologischer Wesen in ihrem
Kreise erzeugt, die allegorischen Personifica-
tionen, die Tugenden und Laster, die sieben freien
Künste und manche andre. Man darf nicht glauben, dass
das Mittelalter diese Gestalten so ansah wie wir, als
willkürliche Einkleidung eines Begriffs; sie hatten eine
viel kräftigere Bedeutung, sie waren nicht bloss erson-
nen, sondern auch überliefert. Um dies zu erklären,
müssen wir auch hier wieder auf heidnische Zeiten zu-
rückgehen. Die römische Religiosität hatte bekanntlich
die Götter nicht in dem Grade wie die griechische indi-
vidualisirt; sie betrachtete sie mehr als Repräsentanten
physischer und geistiger Kräfte und nahm keinen An-
stand auch abstracte Begriffe, wie die Virtus, Fortuna,
Abundantia, Roma persönlich zu gestalten und auf die
Altäre zu erheben. Diese Auffassung war in der spätem
Zeit des römischen Reichs, als der Glaube an die Volks-