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Richtung
der
karolingischen
Kunst.
Die Erklärungen dieser Erscheinung, welche-man
gewöhnlich, besonders früher gab, sind völlig zu verwer-
fen. Eine Einwirkung der ascetischen Richtung auf die
Kunst, nach welcher man es für" nöthig gehalten, die
Gestalten recht leblos und abgetödtet darzustellen, fand
wenigstens jetzt nicht statt; die Figuren zeigen keine
Spuren von Kasteiung und Abmagerung, sie sind viel-
mehr derb und voll, nur roh und unbeholfen. Noch weni-
ger lag es an einem Mangel technischer Fähigkeit, so
dass man die Abweichungen von der Natur, die verrenkten
Arme und Füsse, die übergrossen Augen u. derglÄwohl
bemerkt, aber diesen Fehlern nicht abzuhelfeil gewusst
habe. Die Arabesken beweisen eine hinlängliche Uebung
der Hand, und Karls Eifer hätte Wohl die bessern Talente
herbeigezogen. Es ist vielmehr gewiss, dass die Zeit-
genossen von diesen mangelhaften Zeichnungen völlig
befriedigt waren. Sie rühmten sie, sie bemerkten keine
Abweichung von der Natur; wir finden in allen diesen
Jahrhunderten zahlreiche Stellen, wo es heisst, dass die
Gestalten gemacht wären, als ob sie lebten und wahres
Fleisch hätten?) Man hatte also kein scharfes Auge
für die Natur, man sah sie ungefähr so, wie sie in diesen
Bildern erschien.
Bei den Mönchen, welche in den Klosterschulen die
Malerei erlernten, ist dies schon aus einem nahe liegen-
den Grunde begreiflich. Alles Lernen, als passives Auf-
i) Z. B. Agnellus (Vit. S. Maximiani c. VI. in Murat. Scr.
rer. lläl. t. ll. part. 1. p. 108.) von Teppichen, in Welchen die XVun-
der Christi eingewebt sind: In carne omnes vivae sunt.-Fortun. Iib.
l. carm. 12.: Artificenlque putes hic animasse feras. Von den
Malereien, welche Wilhelmus Bischof von Maus ausführen liess,
heisst es in der Chronik: Viventium speciebus expressis conformalae
(Mabillon Amulect. lect. vet. mon. t. III. p. 367.).