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Die
germanischen
Völker.
römischen Gesetzlichkeit aufnahmen, war es möglich, dass
jenes tiefer bei ihnen eindrang. Wenn aber rohe Völker
die Bildung nicht in sich allmälig erzeugen, sondern von
Aussen her empfangen, so ist es natürlich, dass sie sich
zuerst daraus nur das allgemein Menschliche, dessen
Nutzen sie leicht einsehen, aneignen, also mehr das Sinn-
liche, welches auch der Eigensucht des Menschen am
Meisten verwandt ist und am Leicht-esten in Verderbniss
übergeht.
Man hat wohl die tiefere Empfänglichkeit der Ger-
manen für die christliche Sitte aus ihrer grössern Einfach-
heit und Unverdorbenheit erklärt. Allein das Böse ist
im Zustande der Rohheit nicht geringer als in dem der
Civilisation. Auch bemerkten wir schon, dass bei den
Griechen und Römern nicht die verderbte, sondern die
erhaltene und deshalb heidnische Sitte dem Christenthume
entgegenstand. Von dieser waren freilich die Germanen
freier, aber was sie davon annahmen wirkte um so nach-
theiliger, als es mit ihrer natürlichen Rohheit in Verbin-
dung trat.
Nur die innere Anlage des deutschen Charakters
machte denselben für die tiefste Empfängniss des christ-
lichen Geistes geeignet, und bei der gleichzeitigen Be-
rührung mit römischer Sitte und mit christlicher Lehre
konnte diese Anlage sich keinesweges sogleich entwickeln.
Ueberall ist nichts schwieriger als sich selbst treu zu
bleiben; allzuleicht nimmt der angeborne Charakter durch
den Widerspruch gegen die Aussenwelt eine falsche Fär-
bung an. Besonders aber in starken und tiefen Naturen
werden oft die glücklichsten Anlagen in einer verkehrten,
jugendlichen Anwendung fast unkenntlich, bis sie erst
später wieder hervortreten. So geschah es auch diesen