Die
Deutschen
der
Völkerwanderung.
457
Wenn der Freie über sich verfügt hatte, war es unab-
änderlich. Nicht bloss die Männer, sondern auch die Frauen
waren freier. Keine Spur von orientalischer Absonderung,
selbst in die Schlachten folgten sie. Und hohe Achtung
wurde dem tiefen, durch äussere Gründe weniger irre-
geleiteten Gefühle der Frauen gezollt, man verehrte in
ihnen einen Geist der Weissagung.
So finden wir hier selbst in der rohen Form sinnlicher
WVillkür, die Richtung auf das Gemüthsleben, deren
das Christenthum bedurfte; hier war die Seele so weit
geöffnet, dass die Wurzeln der neuen Lehre bis in die
innerste Tiefe dringen konnten, hier konnte sich die christ-
liche Hingebung und Wärme nicht bloss als seltene Be-
geisterung oder als eine gewaltsame Steigerung Einzelner,
sondern als natürliche Eigenschaft einer ganzen Nation
ausbilden. Diese höchste Ausdehnung des Freiheitsbe-
grilfes hatte freilich ihr Gefährliches. Wo jeder nur sein
Gefühl als Richter anerkennt, nur seinen Empfindungen
folgt, da kann ein bleibender Volksgeist, ein geordneter
Staat mit festen Sitten, eine liefe Bildung nicht leicht
entstehen. Leidenschaft und Willkür werden immer wieder
die
Einheit
des Ganzen
zerreissen.
Jene
natürliche Aus-
bildung des Geistes für Staat und Sitte, Kunst und Wis-
sensclxaft, die wir in der alten Welt bewundern, konnte
sich hier nicht aus dem Volke selbst entwickeln. Auch
das
Christenthum konnte unmittelbar und durch sich allein
nicht Eingang finden, weil die Vorbildung für seine tiefen
Lehren, die bürgerliche Ordnung, neben welcher das erste
X7erständniss derselben ruhig gedeihen konnte, fehlten.
Die alten Völker waren also nothwendig die Vermittler
zwischen dem Christenthume und den Germanen; nur
dadurch dass diese gleichzeitig auch einen Theil der