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Die
germanischen
Völker.
selbst ein klimatisches Element südlicher Natur stand mit
der neuen Lehre im Widerspruch. Es war dafür gesorgt,
während sie hier ihre erste dogmatische Begründung er-
hielt, dass ihre sittlichen Anforderungen einen fruchtbarern
Boden fänden. Fern von der WViege des Christenthums,
in den Wäldern Germaniens war das Volk vorbereitet,
dem es vor Allen zusagte, das hier gleichsam müssig
ruhete, bis die Zeit der Bestimmung kam. Schon Tacitus,
der die Deutschen schildert lange ehe das Christenthum
zu ihnen kam, er selbst ein Römer im vollen Sinne des
Wortes, ohne Ahnung von dem innern Geiste der christ-
liehen Lehre, beschreibt uns ihren Charakter so, dass
wir die Grundzüge einer dem Christenthume verwandten
Anlage nicht verkennen können. Hier war der Einzelne
nicht wie bei den Orientalen an seine Caste, nicht wie
bei den Griechen durch die festen Gesetze seiner Stadt
gebunden, er war ganz Mensch, ganz frei. Nur das
Band der Familie vereinigte die Germanen, und auch
dieses theils nur in einzelnen rechtlichen Beziehungen,
die nicht die ganze Person betrafen, theils nur als natür-
liche Anhänglichkeit des Gefühls. Alle übrigen Verbin-
dungen erschienen als freie, selbst gewählte Verbrüderun-
gen. Der Wille des Einzelnen war für ihn einziges, aber
auch unverbrüchliches Gesetz, so sehr, dass wenn er sich
selbst als den Preis des Würfels setzte, sich in Sclaverei
verspielte, er auch dieser Verpflichtung, da er sie einmal
übernommen, Genüge leisten musste, Nicht nach Stam-
mesrecht, nicht nach den Beschlüssen der Gemeinde,
sondern aus persönlicher Achtung wählten sich Männer
und Jünglinge einen tapfern Führer, um ihm bis in den
Tod zu folgen. Ihn zu verlassen, war die grösste Schmach;
'.l'reubruch und Meineid wurden aufs Höchste geahndet.