Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Altchristliche und muhamedanische Kunst (Bd. 3 = [2], Bd. 1)

Ihr 
Verhältniss 
Poesie. 
4-39 
das 
Gefühl 
unter 
dem 
Einflussc 
der 
feurigsten 
Phantasie 
stand. 
Es ist ein psychologisches Gesetz, dass bei einem 
einseitigen Vorherrschen der Abstraction die Phantasie 
wilder, stürmischer, gewaltsamer ist, sie steigt leichter 
und höher, weil sie nicht an die Natur und ihre Gesetz- 
mässigkeit gebunden, sie mischt die buntesten und glän- 
zendsten Bilder gewaltsam, eben weil der Boden, aus 
dem sie aufsteigt, trocken und unfruchtbar ist. Hier fand 
sie überdies in der Grundform des Contrastes ein leichtes 
Mittel des Aufschwunges und in der Sinnlichkeit einen 
Antrieb. Daher entstand denn die Neigung für das Zau- 
berhafte, Abenteuerliche, Unnatiirliche, aber auch für das 
Zierliche, Leichte, Graziöse, welches dann wiederum in 
dem Schweren, Einfachen, Massenhaften einen Rückhalt 
und Gegensatz fand. 
Es würde zu weit führen, wenn ich in der Geschichte, 
in der Sitte und selbst in der Tracht der Muhamedaner 
die Aeusserungen dieser geistigen Grundlagen näher nach- 
weisen wollte; sie bieten sich fast überall leicht dar. Näher 
mit unserm Zwecke verwandt ist es, sie in der Poesie 
aufzuzeigen. In den altarabischen Gedichten vor und 
aus Muhameds Zeit, welche uns aufbehalten sind, herrscht 
noch ein sehr einfacher, kräftiger Ton, ohne Ueberladung, 
sie erinnern auch in ihren Metaphern nicht selten an nor- 
dische oder germanische Poesien. Im Koran selbst iinden 
wir noch die Gleichnisse mit alttestameiltarischer Kraft; 
die phantastischen Schilderungen sind hier noch mässig, 
obgleich die Metapher schon kühn und häufig gebraucht 
wird. Deutlich tritt aber das phantastische Element in 
den Sagen hervor, welche als mündliche Ueberlieferungen 
im Anfange des neunten Jahrhunders n. Chr. unter dem
	        
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