Volkscharakter
u n d
Religiosität.
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Der grosse Gedanke einer geglaubten und durch Of-
fenbarung gegebenen Religion War ihm ohne Zweifel nur
durch das Christenthum geworden. Förderlich war es
ihm dabei, dass er nur das Christenthum des Orients
kennen lernte, nicht das des Abendlandes. Dieses, in
welchem die Richtung auf das christliche Leben, auf
Busse, Gnade und Wiedergeburt stets vorherrschte, wäre
dem flüchtigen, sinnlich. phantastischen Geiste den-Araber
nicht zugänglich gewesen. Jenes mit seiner ausschliess-
liehen Ausbildung des Dogmatischen, fast ganz absehend
von der Dnrchbildung und Umgestaltung des natürlichen
Menschen, lag ihnen viel näher. Muhained ging in dieser
Richtung noch weiter; Allah in seiner Einsamkeit und
Höhe kann in dem Menschen sein Ebenbild nicht haben.
Islam heisst Ergebung in Gottes Willen, dies ist die eine
zige Tugend; da alles vorher-bestimmt ist, so hat die freie
moralische Selbstthätigkeit geringe Bedeutung. Der Ge-
horsam nimmt die Stelle der Freiheit ein, statt einer
innerlichen, selbsterzeugten Moral giebt es nur Ceremonien
oder Vorschriften zu guten VVerken und für die Erhaltung
einer löbliehen Ordnung. Das Gebet, mit den ausführlich
vorgeschriebenen Waschungen , die Unterstützung der
Armen durch Almosen, die Beobachtung der angeordneten
Fasten und endlich die fromme Pilgerschaft zu den heili-
gen Orten, sind die vorzüglichsten Pflichten des Moslem.
Während aber die eigentliche höhere Freiheit dadurch
x'öllig verschwindet, die ganze Last orientalischer Sclave-
rei von obenher eingeführt wird, bleibt andrerseits die
persönliche, sinnliche Freiheit um so schrankerxloser. Die
Mitte des Lebens ist ungeregelt, die unbegränzte Willkür
stösst unmittelbar an die unbedingte Unterwerfung; neben
der geistigsten Lehre ist der sinnlichste Genuss, neben