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Die
russische
Architektur.
Aeusserlichkeiteng). Der Ernst der Gesinnung, welcher
das ganze Leben durchdringt und das Gottesgefühl in
jeder geistigen Aeusserung ausprägt, findet keine Form.
Daher ist denn auch das plastische Element, die Gestal-
tung des vollen, kräftigen Lebens hier ganz vernach-
lässigt, in der Baukunst wie in den darstellenden Künsten,
und beide fallen nach äusserlichen, ganz verschiedenen
Riicksiehten auseinander. Die Baukunst bringt ihre Werke
dem Gotte dar; einem so sinnlichen Gotte musste sie
mit dem Glanze blendender Farben und anfgehäufter For-
men schmeicheln im). Im Bilde dagegen zeigt sich der Gott
demesinnlichen Menschen; er darf ihm nur schreckend
erscheinen. Zu Nowgorod liest man an einem grossen
Christuskopfe die Inschrift „Siehe wie dein Gott ein
schrecklicher Gott ist," und hierin hat sich das Gefühl
dieser Völker ganz ausgesprochen. Ihre Ehrfurcht beruht
auf dem Schrecken, das Schauerliche gilt ihnen für got-
teswürdig, ersetzt ihnen die Schönheit.
Sehr anschaulich schildert Blasius (a. a. O. I. 119.) die Er-
scheinung eines russischen Gottesdienstes. Die Andacht ist eine kör-
perliche Arbeit, mit Kreuzigen, I-Iinknieen, Niederwerfen bis die Stirn
den Boden berührt; die Volksmasse, die sich in den Kirchen versam-
melt, um das Ablesen der gedruckten Predigt, von welcher der Pope
nicht abweichen darf, zu hören, ist in fortwährender heftiger Be-
wegung.
H) Blasius a. a. O. S. '78. "In der Xviederholung dieser unförm-
wlichen Kuppeln liegt naiver Kindersinn des religiösen Standpunkles.
wDas Haus ist für einen Gott gebaut, der seine Freude hat an der
wQuantität und am Glanz und Prunk. Es ist ein Haus, in dem der
wMensch nicht sein innerstes religiöses Bedürfniss befriedigen, sondern
wmit dem er seinem Gotte ein buntes, spielendes Vergnügen machen
aHVill." Selbst die Eingebornen scheinen jetzt ihre Architektur in
diesem Sinne zu würdigen. In einer in Petersburg (1836) erschie-
nen Schrift wüber die Elemente des Schönen in der Baukunstß vin-
dicirt der ungenannte Verf. ihr nur die Anwendbarkeit für kleinere
Kapellen. Münchner Jahrb. a. a. O. S. 51.