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Byzantinische
Kunst.
Wer sich mit frischem, jugendlichem Gefühle der
Kunst zuwendet, um von ihr fruchtbare Anregung für
Geist und Gemüth zu erlangen, wird durch die Werke
der Byzantiner sich wenig befriedigt finden. Es gehört
schon eine mehr als gewöhnliche Kenntniss und Uebung
dazu, um unter manchem Abstossenden das Gute zu er-
kennen, eine mehr als gcsvöhnliche Vorliebe für die Kunst,
um vor dieser unvollkommenen Darstellung ihres Wesens
nicht zu erschrecken. Auch bestehen die Verdienste
dieser Epoche mehr in technischem Geschick, als in ge-
nialen Leistungen. Indessen darf man doch nicht, wie
es so häufig geschehen ist und geschieht, diese Kunst-
richtung bloss als eine verkümmerte Tradition antiker
Regeln ansehen; sie war vielmehr auch schöpferisch, in
der Architektur brachte sie neue, höchst bedeutungsvolle
und für mannigfaltige Anwendung geeignete Formen her-
vor, in der Malerei erZeugte sie die Typen der christ-
lichen Gestalten. Der Geist des Christenthums war über-
haupt schon, wenn auch noch nicht mit seiner vollen
Kraft, in _iln' thätig, und dies giebt ihr, selbst für die
weniger Eingeweihetcn, eine Alzziehunlgskraft, welche
bei dem Abstossenden der äussern 190ml etwas Geheim-
uissvolles
hat.
Auf dem historischen Standpunkte können wir aber
sogar ihre Mängel mit minder ungünstigem Auge betrach-
ten. Die Herrliehkeit der altgriechisehen Kunst War nicht
dazu geeignet, auf weniger begabte Völker überzugehn;
die Römer mussten sie erst verständlicher, populärer
machen, wenn inan will herabziehn, (lainit auch Andre
den Zugang fänden. Die byzantinische Kunst setzte die-
sen Prozess noch weiter fort; sie brachte die Anforde-
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künstlerischer
Genialität
auf das
geringste Maass