Charakteristik
des
Styls.
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Nur so viel mag man von jener Ansicht zugeben, dass
die kirchliche Gesinnung einer freien, vollen Entwicke-
lung des Lebens in gewissem Sinne entgegenstand. Das
Christenthum hatte schon damals eine mönchische Rich-
tung bekommen; bei einer Sitte, welche noch so viel
von antiker Sinnlichkeit erhalten hatte, musste die Vor-
stellung der Heiligkeit mit der der Kasteiung sich leicht
verknüpfen. Tertnllian in einer Stelle, wo er von der
Schönheit spricht, und diese als etwas Unnützes, als eine
Verleitung zur Unkeuschheit mit Verachtung behandelt,
fügt hinzu, dass, wenn der Christ sich seines Leibes
freuen wolle, es nur an dem durch Busse abgehärteten
und abgemagerten Leibe geschehen dürfe ü). Waren nun
auch die Ansichten dieses überstrengen Kirchenvaters
nicht durchgedrungen, so blieben sie doch nicht ohne
Einfluss, und man kann nicht läugnen, dass schon früh-
zeitig selbst die besten Mosaiken an den heiligen Ge-
stalten durchweg übertrieben iinstre Züge zeigen; vor-
tretende Backenknochen mit hohlen Wangen, tiefliegende
Augen, schwere Runzeln, überhaupt die Züge des früh-
zeitigen, durch Kasteiungen beförderten Alters. An Ort
und Stelle, in der strengen und einfachen architektoni-
schen Umgebung der Basiliken selbst, wirkt dies Weniger
naehtheilig; es stimmt so sehr mit dem Charakter dieser
Gebäude, mit der ernsten Anordnung, der unbeholfenen
Ausführung und den Fragmenten früherer Pracht überein,
dass es nur wie der bestimmten-e Ausdruck, wie die Seele
dieser ehrwürdigen Stätte erscheint; wir werden von
dem Geiste, der hier herrschte und diese Formen aus-
prägte, erfüllt, und nehmen sie mehr in dem Sinne auf,
in dem sie geschaffen wurden, als in dem unsrer Zeit.
Terlu
de cultu
feminarunl.