Hinneigung
zum
Orientalismus.
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sondern auch die tieferen geistigen Bestrebungen hatten
eine dem Orient entsprechende Richtung genommen. An
die Stelle. der freien sokratisehen Dialektik und der stol-
zen selbstständigen Lehre der Stoiker war die neuplato-
nische Philosophie getreten, eine Doctrin, welche die
Einheit des Weltalls mehr als die Freiheit des Indivi-
duums geltend machte. So war denn der Geist der Ein-
heit, der im indischen Pantheismus und im jüdischen
Monotheismus herrschte, der auch im persischen Dualis-
mus noch durchblickte, auf Europa übertragen, und jene
ältere europäische Richtung auf Sonderung und Indivi-
dualität in den Hintergrund gedrängt. Es lässt sich nicht
verkennen, dass diese Geistesrichtung der Verbreitung
des Christenthums günstig war, indem sie jenen ihm ent-
gegenstehenden Geist des Selbstgefühls und der Sonde-
rung der Individuen, die Anhänglichkeit an die polythei-
stischen Götter schwächte. Aber freilich war diese
negativ vortheilhafte Wirkung mit einer positiv nach-
theiligen verbunden, indem dabei die Beziehung des Chri-
stenthurns auf die Durchbildung des Einzelnen, auf mora-
lische Heiligung nicht ihre volle Anerkennung fand.
Dies orientalische Element des spätrömischeil Geistes
erhielt nun im östlichen Reiche, nach, seiner Trennung
von den westlichen Provinzen, entschieden das Ueberge-
wicht. Die Hauptstadt selbst lag an der Gränze von
Asien, die wichtigsten Provinzen gehörten diesem Welt-
theile ganz an, der Sitz jener spätem Philosophie, Alexan-
drien , wurde die Schule christlicher Doctrin. Dadurch
gewann denn dieses neugebildete Reich eine innere Ein-
heit: es. War dem Widerstreit unvereinbar-er National-
geister nicht mehr ausgesetzt; allein es musste sich nun
auch vermöge innerer Nothwexidigkeit immermehr nach