Volltext: Geschichte der bildenden Künste bei den Alten: Griechen und Römer (Bd. 2 = [1], Bd. 2)

Sittlichkeit. 
Allein so mangelhaft diese Lebensansieht war, so 
gewährte sie doch in allem, was das äussere Leben 
angeht, auch in nloralischer Beziehung, wichtige Vor- 
züge. Während bei uns der Zufälligkeit des Einzelnen 
vielfheh freies Spiel gelassen werden muss, und das Mit- 
tel zur Verbindung der äussern Ordnung mit den höhern 
geistigen Zwecken schwer zu finden ist; während unser 
Streben geistiger wird und deshalb manches Irdische 
vernachlässigt; war dem Griechen die äussere WVohlfaln-t 
auch zugleich Ziel und Aufgabe der innern Freiheit; beide 
standen daher im Einklange , der Kampf der inneren 
Wünsche und der äussern Erfordernisse störte seltener 
und schwächer die schöne Heiterkeit und Regelmässigkeit 
des Lebens. Das Leben wurde ein reincres Vorbild der 
Kunst. 
Ein zweiter, grosser Vorzug der Griechen, der mit 
jener Beschränkung zusammenhängt, ist die Natürlich. 
keit ihrer Sitte. Bei allen andern Völkern, bei den 
Orientalen und bei uns , den Christen , ist die Moral 
hauptsächlich aus der Religion hergeleitet. Die Griechen 
nahmen die religiösen 'l'raditionen ganz ohne moralische 
Anwendung; ihre sittlichen Ansichten bildeten sich frei 
aus dem natürlichen Gefühl und wirkten vielmehr, wie 
schon erwähnt, auf die Götter zurück, indem sie den 
überlieferten asiatischen Mythen einen sittlichen Charak- 
ter unterlegten. Durch diese freie Entwickelung ihres 
Gefühls erhielten sie eine moralische Würde, die uns 
Bewunderung abnöthigt. Jene Zerstörung der sittlichen 
Kraft, welche bei uns so oft vorkommt, indem man nicht 
ganz aus eigenem Antriebe, sondern nach Vorsätzen, 
mit getheilter Seele handelt, war ihnen unbekannt. Ihr 
sittliches Handeln __trägt. iladurch, selbst da, wo es unserer
	        
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