Sittlichkeit.
Allein so mangelhaft diese Lebensansieht war, so
gewährte sie doch in allem, was das äussere Leben
angeht, auch in nloralischer Beziehung, wichtige Vor-
züge. Während bei uns der Zufälligkeit des Einzelnen
vielfheh freies Spiel gelassen werden muss, und das Mit-
tel zur Verbindung der äussern Ordnung mit den höhern
geistigen Zwecken schwer zu finden ist; während unser
Streben geistiger wird und deshalb manches Irdische
vernachlässigt; war dem Griechen die äussere WVohlfaln-t
auch zugleich Ziel und Aufgabe der innern Freiheit; beide
standen daher im Einklange , der Kampf der inneren
Wünsche und der äussern Erfordernisse störte seltener
und schwächer die schöne Heiterkeit und Regelmässigkeit
des Lebens. Das Leben wurde ein reincres Vorbild der
Kunst.
Ein zweiter, grosser Vorzug der Griechen, der mit
jener Beschränkung zusammenhängt, ist die Natürlich.
keit ihrer Sitte. Bei allen andern Völkern, bei den
Orientalen und bei uns , den Christen , ist die Moral
hauptsächlich aus der Religion hergeleitet. Die Griechen
nahmen die religiösen 'l'raditionen ganz ohne moralische
Anwendung; ihre sittlichen Ansichten bildeten sich frei
aus dem natürlichen Gefühl und wirkten vielmehr, wie
schon erwähnt, auf die Götter zurück, indem sie den
überlieferten asiatischen Mythen einen sittlichen Charak-
ter unterlegten. Durch diese freie Entwickelung ihres
Gefühls erhielten sie eine moralische Würde, die uns
Bewunderung abnöthigt. Jene Zerstörung der sittlichen
Kraft, welche bei uns so oft vorkommt, indem man nicht
ganz aus eigenem Antriebe, sondern nach Vorsätzen,
mit getheilter Seele handelt, war ihnen unbekannt. Ihr
sittliches Handeln __trägt. iladurch, selbst da, wo es unserer