Volltext: Geschichte der bildenden Künste bei den Alten: Griechen und Römer (Bd. 2 = [1], Bd. 2)

Volkscharakter 
u n d 
Sitte. 
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Die Griechen aber kümmerten sich darum wenig. Im 
Hochgefühle ihrer Kraft und mit der genialen Leichtigkeit 
ihres Wesens blickten sie nicht rückwärts, sondern über- 
liessen sich der freigestaltenden Phantasie, dem sittlichen 
'l'akt und dem  kühnen Fluge des Gedankens. Ganz 
anders bei den Römernyhier War ein inneres Bediirfniss 
einer allgiiltigen, praktisch anwendbaren Lehre. Die Phan- 
tasie sollte religiös, die Religion moralisch sein. Aber 
weil denn doch jener Gedanke der Einheit nicht klar 
und entschieden war, so hinderte er wieder nur die freie 
Entwickelung dieser einzelnen 'l'hätigkeiten. Die Philoso- 
phie war gelähmt, ohne Selbstgefühl; die Götter, weder 
mit Innigkeit angeschaut noch verworfen, wurden nur 
die Trägerlabergläubischer Ceremonien; die Moral nahm 
zwar noch die würdigste Gestalt an, aber es fehlte ihr 
das Erhebende; sie duldete oder tadelte, sie begeisterte 
nicht. Wie gesagt, in dem starken Schritte, den das 
römische Volk der republikanischen Zeit wandelte, fühlte 
es diese innere Wunde nicht. Wie sie aber schon in der 
frühern, schönern Zeit der Kaiserherrschaft schmerzhaft 
wurde, können wir auf's Auschaulichste in der Stimmung 
beobachten, welche 'l'acitus in seinen Geschichtswerken 
ausspricht. Dieser edle und tiefe Geist ist voller Wärme 
für das Gute und Schöne. In seinem moralischen Gefühl 
liegt die Sehnsucht nach einer höhern YVeltordnung, in 
seiner darstellenden charakteristisch bildenden Phantasie 
ein künstlerisches, in der Schärfe seines Urtheils ein phi- 
losophisches Element. Aber er ist nicht fähig, sich mit 
irgend einer idealen Schöpfung zu befriedigen, sondern 
er sucht die volle Wirklichkeit. Die findet er ohne Götter 
und ohne göttcrgleiche Menschen, manches relativ Gute. 
nichts Vollkommenes. Da erscheint ihm denn Religion
	        
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