Volkscharakter
u n d
Sitte.
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Die Griechen aber kümmerten sich darum wenig. Im
Hochgefühle ihrer Kraft und mit der genialen Leichtigkeit
ihres Wesens blickten sie nicht rückwärts, sondern über-
liessen sich der freigestaltenden Phantasie, dem sittlichen
'l'akt und dem kühnen Fluge des Gedankens. Ganz
anders bei den Römernyhier War ein inneres Bediirfniss
einer allgiiltigen, praktisch anwendbaren Lehre. Die Phan-
tasie sollte religiös, die Religion moralisch sein. Aber
weil denn doch jener Gedanke der Einheit nicht klar
und entschieden war, so hinderte er wieder nur die freie
Entwickelung dieser einzelnen 'l'hätigkeiten. Die Philoso-
phie war gelähmt, ohne Selbstgefühl; die Götter, weder
mit Innigkeit angeschaut noch verworfen, wurden nur
die Trägerlabergläubischer Ceremonien; die Moral nahm
zwar noch die würdigste Gestalt an, aber es fehlte ihr
das Erhebende; sie duldete oder tadelte, sie begeisterte
nicht. Wie gesagt, in dem starken Schritte, den das
römische Volk der republikanischen Zeit wandelte, fühlte
es diese innere Wunde nicht. Wie sie aber schon in der
frühern, schönern Zeit der Kaiserherrschaft schmerzhaft
wurde, können wir auf's Auschaulichste in der Stimmung
beobachten, welche 'l'acitus in seinen Geschichtswerken
ausspricht. Dieser edle und tiefe Geist ist voller Wärme
für das Gute und Schöne. In seinem moralischen Gefühl
liegt die Sehnsucht nach einer höhern YVeltordnung, in
seiner darstellenden charakteristisch bildenden Phantasie
ein künstlerisches, in der Schärfe seines Urtheils ein phi-
losophisches Element. Aber er ist nicht fähig, sich mit
irgend einer idealen Schöpfung zu befriedigen, sondern
er sucht die volle Wirklichkeit. Die findet er ohne Götter
und ohne göttcrgleiche Menschen, manches relativ Gute.
nichts Vollkommenes. Da erscheint ihm denn Religion