Volkscharaktcr
und
Sitte.
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Gefühls. Sie hindefte die härtesten Aeusserungen nicht,
ja sie führte eigentlich nur dahin, den innern Zwiespalt
noch gefährlicher zu machen, die Reinheit und Wahrheit
des Gemüths noch unheilbarer zu zerstören "Ü.
Bei Beiden, bei.den Römern wie bei den Griechen,
knüpfte sich die sittliche Ansicht an den Begriff des
Staats, aber in sehr verschiedener Weise. Dem Griechen
war der Staat das Erste und Einzige, die Frucht und
Krone des natürlichen Daseins vernünftiger Geschöpfe.
Die Ausbildung des Einzelnen und des Ganzen war ihm
eine und dieselbe Aufgabe; nur im Staate konnte der
Mensch sein Ziel erreichen und nur durch die Freiheit
der Bürger erlangte der Staat seine höchste Würde und
Schönheit. Der Römer hatte ein tieferes Bewusstsein
der Verschiedenheit der Interessen; die Geschichte seiner
Republik drang es ihm auf. Sie schien fast nur vertrags-
mässig, durch die Regulirung der Rechte verschiedener
Stände ausgebildet zu sein. Von zwei Seiten musste
man nachgeben, um zu einer Vermittelung zu gelangen,
das Gesammtwohl musste die Rechte der Einzelnen und
der verschiedenen Stände nicht
aber in seiner Lebensweise , in
verletzen, der Bürger
der Entfaltung seines
In Ciceros Briefwechsel mit seinen nähern und entfernlern
Freunden spricht sich ein wirklich edles und wohlwollendes Gerniith
aus. Aber wie oft haben wir auch hier das Gefühl, dass er doch
nur vor sich und Andern den Schein suche; in welchen Zwiespalt
stürzen ihn die Riicksichten auf seine Moral und auf die äussern
Verhältnisse! XVie hart ist der milde Mann zuweilen; seinen Hass,
seinen KVunsch sich rächen zu können, spricht er ohne alle Scheu
uns. Der Sache des Ponrpejnls, obgleich er auch sie für eine durchaus
schlechte hält, folgt er, wegen der Dankbarkeit, die er ihm schuldig
ist, wegen der hVohltlnaten, die jener ihm erzeigt, aus Consequeuz,
weil er diese {Vohlthalen (die eigentlich so gross nicht sind) Sßllon
anerkannt und geriilunt hat.