Volkscharakter
und
Sitte.
401
nach Aussen, sondern auch die Reinheit und Mässigkeit
des Privatlebens. In allen diesem stehen die Römer von
Anfang an den Griechen näher. Auch die Begriffe von
der Würde und Bedeutung des Einzelnen sind sehr ver-
wandt; wie dem Griechen das Ideal eines guten und
schönen Mannes, stand dem Römer ein Vorbild kräftiger
Tugend, Ehrbarkeit und Sitte vor Augen. Bei aller patrici-
sehen Religiosität der frühem Zeiten machte sich der Trieb
nach eigner würdiger Haltung, nach der Festigkeit und
Durchbildung des moralischen Charakters sehr bald selbst-
ständig geltend, und je mehr jene hergebrachte Religio-
sität erlosch, je mehr freieres Denken sich ausbildete,
desto entschiedener und wirksamer wurde dieses mora-
lische Selbstgefühl. Es (lurchdraug das tiefste Leben
der Nation; noch in der Verderlmiss der Kaiserzeit hielt
es die Gemüther aufrecht.
Doch unterscheidet dieses moralische Ideal der Römer
sich
sehr
wesentlich
VOI)
dem
Griechen.
der
Bei diesen
war es auf Schönheit und Vollendung der sittlichen Ge-
stalt in individueller Harmonie, bei jenen mehr auf die
Ehrbarkeit der äusseren Erscheinung gerichtet, bei der man
zwar das Bewusstsein innerer Befriedigung auch erstrebte,
zunächst aber doch den Beruf, sich in äusserlicher WVürde
dem Volke als Vorbild zu zeigen, im Auge hatte. Charak-
teristisch nennen jene dies Ideal 1:6 uotldv, das Schöne,
diese honestum, das Ehrbare. Der römische Sinn ist
daher praktischer, er nimmt mehr Rücksicht auf die
schwache, sündhafte Natur des Menschen, er strebt nicht
nach dem Unerreichbaren; er ist aber Weniger wahr,
weniger in sich einig. Die römische Tugend geht nicht
so tief aus dem Innern des Gemüthes hervor, sondern
aus einer mehr zu Tage liegenden Region; sie wird