Schranken
der
griech.
Weltansichtz.
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eine höhere Olienbarung als die Natur; was er aus ihr
deutet, ist Wesentlich sein Werk, es hebt ihn nicht über
sich. Deshalb muss die Religion eine andere, eine geistige
Quelle ausserhalb des einzelnen Menschen haben, und die
erste Gestalt derselben ist die Tradition. Die Philosophie
aber kann niemals Tradition werden, wenigstens nicht
bei dem Volke, in dessen Schoosse sie entsteht. Sie
trägt immer den Charakter freier, geistiger Bewegung,
sie ist ewig eine Werdende. So sehr sie sich daher
einer reinern Erkenntniss Gottes näherte, ja indem sie
dieses that, vollendete sie nur die Zerstörung der heimi-
schen Religion und mit ihr des Volkswesens.
Aber sie vollendete diese Zerstörung nur. Denn
begonnen hatte sie eigentlich von Anfang an, als die
Sage und die Dichter die unvollkommenen Ueberlieferun-
gen im edlern Sinne umbildeten. Von da an, so sehr
auch Gesetze und Sitten das Heiligthum vor fernerem
Eindringen schützen mochten, war ein Fortschritt in die-
ser Richtung unvermeidlich. Hätten die Griechen, wie
die alten Aegypter, nichts Höheres im Sinne gehabt, als
die äussere Ordnung der sittlichen Welt nach der Gestalt
der sinnlichen Natur, so hätte auch ihr Volk, wie jenes,
dieselbe langjährige, nur durch fremde Gewalt zerstörbare
Dauer haben können. Ihr Verderben lag in ihrer höhern
Begabung, darin, dass ihre sittliches Gefühl über ihre
religiösemUeberlieferungen hinausragte. Wer aber möchte
das stumme unfruchtbare Beharren des ägyptischen Volks
dem kurzen reich erfüllten Leben des griechischen vor-
ziehen?
Die griechische Geschichte erscheint von dieser Seite
wie eine grosse ffragödie. Wie, Achilleus muss Hellas
nach göttergleichen 'l'haten in seiner Jugendblüthe sterben,
Il. 23