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Griechische
Kunst.
im Leben zeigte sich der innere Widerspruch schneller
als in jenen reinen Gebieten; mit dieser vollen, demo-
kratischen Freiheit konnte griechische Sitte nicht bestehen.
Willkür und Eigennutz, Leichtsinn und Leidenschaft be-
gannen sofort an dem Gemeinwesen zu rütteln, seine
Mauern zu untergraben. Jetzt und später finden wir
einzelne, herrliche Gestalten, aber der Anblick des Gan-
zen, der Staaten, des griechischen Volks giebt uns schon
das Bild der beginnenden Auflösung, und selbst jene
Heroen sind nicht so rein, um uns dafür zu entschädigen.
S0 zeigte sich der innere Widerspruch des griechi-
schen Geistes. Jenes Ideal individueller Freiheit, das
ihm vorschwebte , musste nach dem Gesetze innerer
Nothwendigkeit, das jede lebendige Wahrheit an das
Licht treibt, sich verwirklichen, aber mit ihm konnten
die bisherigen religiösen und bürgerlichen Zustände nicht
bestehen. Der Glaube an diese sinnlich gestalteten Göt-
ter, an das unantastbare I-Ieiligthum der Stadtgemeinde
war nun kraftlos, jedes sittliche Gebot schwankend ge-
worden. Man kann erstaunen, dass es nun dem regen,
"lebensvollen Geiste der Griechen nicht gelang, auf dem
Boden dieser neuen Einsicht ihr Gemeinwesen neu zu
errichten. In der That waren ihre Philosophen eifrigst
bemüht und glücklich genug, eine tiefere Erkenntniss des
göttlichen Wesens und der göttlichen Abstammung der
menschlichen Seele, eine neue Begründung der Sittlich-
keit zu erlangen oder doch zu ahnen. Aber diese höhere
Einsicht konnte niemals Gemeingut, niemals Religion
werden. Die Religion muss stets wenigstens die Form
einer Offenbarung haben. Jene erste Offenbarung,
welche in der äussern Schöpfung vor uns liegt, ist un-
genügend, denn der Geist des Menschen ist selbst schon