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Kunst.
Griechische
dadurch ihnen die schöne Ausbildung ihres sittlichen
Ideals möglich wurde. Freilich war es dies, was sie
hoch befähigte, aber zugleich war darin ein Keim innem
Zwiespaltes gegeben, welcher ilenschnellen Verfall herbei-
führte. Die Götter, von welchem frühern Volke sie auch
herstammten, kamen zu den Griechen auf dem YVege
historischer Tradition; die sittliche Vorstellung entwickelte
sich aus ihrer eignen Brust. Beide also, Religion und
Sittlichkeit, hatten verschiedene Quellen. Zwar verwan-
delte ihr besseres Gefühl diese Götter aus blossen Natur-
symbolen in fühlende und handelnde Wesen, aber völlig.
verloren sie den Charakter jenes frühern Ursprungs nicht.
Die Frömmigkeit war nicht die Quelle der sittlichen Ge-
bote, sondern selber ein sittliches Gebot; weil es dem
Menschen ziemte, die Götter zu ehren, opferte man an
ihren Altären und hielt sie für die Erhalter des Rechts.
Aber auch so waren sie nur Geschöpfe des menschlichen
Gefühls, von diesem gehoben, nicht es erhebend.
Das sittliche Ideal der Griechen beruhete gewiss auf
einer tiefen Anschauung. Die Gestalt des Menschen in
der vollen Entwickelung seines ganzen Wesens und in
der harmonischen Einheit seiner Kräfte schwebte ihnen
vor, und für die Ausbildung dieses Grundgedankens war
denn jene ursprüngliche Unabhängigkeit von religiösen
Dogmen allerdings günstig. Keine ängstliche Rücksicht
auf Geheimnissvolles und deshalb leicht Missverstandenes
hinderte sie, dem edeln und feinen Gefühle zu folgen.
Aber eine völlige Gleichgültigkeit des moralischen Ele-
ments gegen das religiöse ist denn doch wieder nicht denk-
bar; wie die Gestalten jener Natnrgötter behielt auch
ihre sittliche Anschauung (sei es durch diese Wechsel-
wirkung oder durch eine Beschränkung der ursprünglichen