Gleiche
Entwickelung
Kunst u.
Sitte.
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besonders einem weichlichen, vaterlandslosen Geschlechte
gegenüber, aber die Palme schönster Sittlichkeit können
sie nicht erlangen. Dieser frühern Stufe hellenischer
Sittlichkeit entsprachen völlig jene ältern Bildwerke mit
ihren strenggeregelten Formen, ihrem einförnlig starren
Lächeln, mit der feierlich abgemessenen oder leiden-
schaftlich gewaltsamen Bewegung. Fast gleichzeitig mit
dem hohen Style der Kunst erhob sich auch der sittliche
Geist der Griechen zu einer höhern Freiheit, aber ebenso
schnell wie die Kunst glitt er auch wieder von dieser
Höhe herab zu zwar immer noch anmuthigen und selbst
edeln, aber minder reinen und hohen Gestalten.
So sind also beide, die Entwickelung der Sitte und
der Kunst, in ziemlich gleichem Gange fortgeschritten.
Ja in moralischer Beziehung scheint sogar die höchste
Stufe, Welche denn doch in der Kunst eine, wenn auch
nur kurze Dauer hatte, niemals erreicht zu sein. WVe-_
nigstens können wir keinen Moment erkennen, in welchem
das sittliche Volksleben einen Ilöhepuilkt, wie die Kunst
in der Zeit des Phidias, oder auch nur des Skopas und
Praxiteles, behauptete. An das Aufstreben gränzte un
mittelbar der Verfall, an die herbe Strenge eine auflösende
Weichlichkeit. Das höchste Vorbild der Sittlichkeit blieb
stets nur ein erstrebtes, als man nahe (laran war, es zu
erfassen, War es verschwunden.
Die Erklärung dieser betrübenden Erscheinung ist,
glaube ich, grade in dem zu finden, was den höchsten
Vorzug der Griechen ausmacht, in der Eigenthümliclukeit
ihrer sittlichen und religiösen Ansichten. Im Eingange
zu der Geschichte der griechischen Kunst bemerkten wir,
dass ihre Sittlichkeit, mehr als bei andern Völkern, von
der Religion unabhäiilgig gewesen war, und dass grade