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Zweite
Periode
der
griech.
Kunst.
Sinne des Wortes natürliches Verfahren den Vorzug
hatten, dass ihre Bildung eine freie und selbsterzeugte
war. Ungeachtet und sogar vermöge der Aeusserliehkeit
ihrer ursprünglichen Richtung war ihr Streben ein inner-
liches und erhielt bis an die äussersten Gränzen hin
die Frische und das Leben geistiger Freiheit.
Ein zweiter Vorzug dieser Sinnesweise war, dass
sie dadurch zur bildenden Kunst vorzugsweise befähigt
wurden. Denn diese beruht ja grade darauf, dass das
Geistige nicht unmittelbar auftritt , sondern gleichsam
verborgen und in dem Körper verschlossen.
In der Periode, die wir jetzt betrachtet haben, ist
dieser Bildungsgang noch nicht beendigt. Die geistige
Kraft darf selbst noch nicht in ihrer körperlichen Er-
scheinung deutlich hervortreten. Deshalb steht auch in den
Gestalten der Kunst die Ausbildung des geistigen Organs,
des Hauptes, hinter der des Leibes zurück, der Ausdruck
der Körperformen ist nicht bloss natürlicher, sondern auch
edler, schöner und mithin geistiger als der des Gesichtes.
Dieser Mangel wird aber weniger störend, wenn wir uns
das Gesammtbild der griechischen Kunst dieser Zeit ver-
gegenwärtigen, wenn wir die gedrungenen , kräftigen
Gestalten der Plastik mit dem ebenso starken, ernsten,
strengen, gleichmässigen Bau des dorischen Tempels in
seiner damaligen Form verbunden denken. Dann erst
verstehen wir. jene völlig und sehen in ihnen das vollendete
und harmonische Bild einer jugendlich ernsten, strebenden
Zeit, in welcher der Geist noch in keuscher Verborgen-
heit seiner künftigen reifen Entfaltung entgegen wartet.