Religion
u n d
Verfassung.
Es kann paradox klingen, aber es ist wahr, dass die
Llnabhängigkeit ihrer Moral von der Religion, den Grie-
chen die hohe sittliche Würde verlieh. Grade hierdurch
entwickelte sich in ihrem moralischen Ideal ein eigen-
thümlicher und schöner Zug, der der Mässigung. Die
Sittlichkeit ist eng verbunden mit dem Selbstgefühl und
der Freiheit des Menschen; ohne Freiheit giebt es kein
moralisches Verdienst und keinen Tadel. Wird aber der
Begriff der Freiheit so weit ausgedehnt, dass jeder der
dunkeln, eigensinnigen Empfindung des Augenblicks fol-
gen zu dürfen glaubt, so löst sich die sittliche Welt auf,
und selbst der vermeintlich Freie ist nur ein Sclave sei-
ner Sinnlichkeit und des Zufalls. Ein so reges Freiheits-
gefühl, wie das der Griechen, hätte daher leicht jeden
Fortschritt der Bildung hemmen können, wie auch
wirklich manche Völker dadurch in einem wilden und
rohen Zustande zurückgehalten worden sind. Diese Ge
fahr wurde bei andern Völkern durch die Lehren und
Vorschriften der Priester abgewendet, Welche, indem sie
in gewissem Grade Freiheit und Einsicht gestatteten,
den lllissbrauch derselben verhiiteten; ein System, wel-
ches zwar von segensreichen Folgen für diese Völker
war, aber dennoch ihrer natürlichen Entwickelung Schran-
ken setzte und die Blüthen ihres Geistes der höchsten
Anmuth, welche nur bei völlig freiem und ungehemmtem
WVachsthum entsteht, beraubte. Die Griechen bedurften
solcher hierarchischen Leitung und Bevormundung nicht,
Weil das, was diese erreichte, bei ihnen schon im Gefühle
unmittelbar gegeben war. Der männlich kühnen Freiheits-
liebe, welche sie beseelte, war eine zarte jungfräuliche
Scheu vor allem Unreinen und Unheiligen , eine tiefe
kindlich fromme Ehrfurcht vor (lenl Göttlichen, Hohen,