Volltext: Geschichte der bildenden Künste bei den Alten: Griechen und Römer (Bd. 2 = [1], Bd. 2)

Religion 
u n d 
Verfassung. 
Es kann paradox klingen, aber es ist wahr, dass die 
Llnabhängigkeit ihrer Moral von der Religion, den Grie- 
chen die hohe sittliche Würde verlieh. Grade hierdurch 
entwickelte sich in ihrem moralischen Ideal ein eigen- 
thümlicher und schöner Zug, der der Mässigung. Die 
Sittlichkeit ist eng verbunden mit dem Selbstgefühl und 
der Freiheit des Menschen; ohne Freiheit giebt es kein 
moralisches Verdienst und keinen Tadel. Wird aber der 
Begriff der Freiheit so weit ausgedehnt, dass jeder der 
dunkeln, eigensinnigen Empfindung des Augenblicks fol- 
gen zu dürfen glaubt, so löst sich die sittliche Welt auf, 
und selbst der vermeintlich Freie ist nur ein Sclave sei- 
ner Sinnlichkeit und des Zufalls. Ein so reges Freiheits- 
gefühl, wie das der Griechen, hätte daher leicht jeden 
Fortschritt der Bildung hemmen können, wie auch 
wirklich manche Völker dadurch in einem wilden und 
rohen Zustande zurückgehalten worden sind. Diese Ge 
fahr wurde bei andern Völkern durch die Lehren und 
Vorschriften der Priester abgewendet, Welche, indem sie 
in gewissem Grade Freiheit und Einsicht gestatteten, 
den lllissbrauch derselben verhiiteten; ein System, wel- 
ches zwar von segensreichen Folgen für diese Völker 
war, aber dennoch ihrer natürlichen Entwickelung Schran- 
ken setzte und die Blüthen ihres Geistes der höchsten 
Anmuth, welche nur bei völlig freiem und ungehemmtem 
WVachsthum entsteht, beraubte. Die Griechen bedurften 
solcher hierarchischen Leitung und Bevormundung nicht, 
Weil das, was diese erreichte, bei ihnen schon im Gefühle 
unmittelbar gegeben war. Der männlich kühnen Freiheits- 
liebe, welche sie beseelte, war eine zarte jungfräuliche 
Scheu vor allem Unreinen und Unheiligen , eine tiefe 
kindlich fromme Ehrfurcht vor (lenl Göttlichen, Hohen,
	        
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