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Griechen.
migkeit noch ein Mal mehr zu üben. Bei dieser Leich-
tigkeit der Fortpflanzung religiöser Traditionen konnte es
denn an Abweichungen derselben nicht fehlen, Weder die
Personen der Götter noch ihre Thaten und Schicksale
galten für völlig festgestellt. Allein diese Zweifel beun-
ruhigten die Gemüther keinesweges, man rief, wie es in
einem Chore des Sophokles heisst, den Gott an, welchen
Namen er auch führen möge. So überwiegend war in
dieser Religiosität das Moment subjectiver, persönlicher
Frömmigkeit, so unbekümmert war das fromme Bewusst-
sein über das Objective der Gottheit und ihre Beziehung
auf die sichtbare Welt.
Ebenso frei und ungebunden war die Beziehung der
Götter auf das Moralische. Im Allgemeinen galten sie
zwar für Beschützer des Rechts und Rächer des Unrechts,
aber worin beides bestand, das war durch keine feste
Lehre ursprünglich festgestellt. Grade dadurch aber blieb
das eigene sittliche Gefühl ungehemmt und entwickelte
sich freier und schöner, als bei irgend einem andern
Volke. Statt durch unvcllkommene Vorstellungen von
der Gottheit zu leiden, wirkte vielmehr das sittliche Ge-
fühl der Griechen auf diese Vorstellungen zurück, bildete
und veredelte sie. Griechenland nahm die Sagen andrer
Völker, mythisch eingekleidete Naturanschauungen bei
sich auf, legte ihnen aber mehr und mehr einen frei poe-
tischen und sittlichen Sinn unter. Sonne, Mond, Stern-
bilder, Jahreszeiten waren den frühem Nationen zu Göt-
tern geworden; der Grieche sah in diesen Gestalten edle
lebensvolle "Persönlichkeiten und die Träger und Leiter einer
moralischen Weltordnung. In diesem Sinne haben die Dichter
die Götter gebildet, indem sie den rohen und unförmlichen
Gestalten der Barbaren lieben und Geist einhauchten.