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Griechische
Plastik.
sich in ihrer Reinheit und Unbefangenheit hoch über
solchen Verirrungen zu halten, ohne einer gewaltsamen
und einseitigen Trennung der Dinge zu bedürfen. Und
wenn sich auch bei ihnen, wie wir weiter unten sehen
werden , eine Schranke findet, die auch sie als ein-
seitig zeigt und Spuren einer dualistischcn Sonderung
bemerken lässt, so ist dies nur das Loos alles Mensch-
lichen, dem auch sie nicht entgehen durften. Auch ist
dieser Mangel nur für uns, von einem andern Standpunkte
aus und in Beziehung auf andere Völker oder auf die
Bestimmung des menschlichen Geschlechtes im Allge-
meinen, bemerkbar, für ihr eigenes Bewusstsein war alles
befriedigend und harmonisch gelöst, kein Gefühl des
Zwiespalts oder des Druckes lastete auf ihnen. Heiter
und unbefangen überblickte ihr Auge die Natur, und sah
überall befreundete, verständliche Erscheinungen. Diese
grossartige Heiterkeit des Sinnes spricht sich vorzugs-
weise in ihrer bildenden Kunst aus, selbst die Gestalten,
welche die Phantasie frei und ohne natürliches Vorbild
geschaffen, haben nichts Schauerliches, Geisterhaftes oder
Monströses. Wenn solche Schemen in frühem Ueber-
lieferungen vorkamen, behandelte sie die reifere Zeit als
ein historisch Vergangenes, als Erzeugnisse einer chao-
tischen Vor-zeit, der die jüngern Götter ein Ende gemacht
haben, oder als Ungeheuer, die von den Heroen bezwun-
gen sind. Jene Vermehrung der menschlichen Glieder,
wie sie die Inder an ihren Göttern bilden, kommt hier
nur zur Bezeichnung einer ungeschlachten, wüsten Kraft
vor. Der dreiköpüge Geryon wird vom Herakles über-
wunden, in der bildenden Kunst ist er überdies fast nie-
mals dargestellt. Der ebenfalls dreiköpfige Cerberus
(obwohl am thierischen Körper solche Häufung der Gliev